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Meinung: Kanzlerkandidatur: Wer verliert am schönsten?

In der Union hat ein neues Wort Konjunktur. Es heißt "Anstand".

Von Robert Birnbaum

In der Union hat ein neues Wort Konjunktur. Es heißt "Anstand". Es findet sich nicht in den offiziellen Reden und Verlautbarungen, fällt dafür aber umso häufiger an informellen Orten wie zum Beispiel in den Gängen eines CSU-Parteitags: Man müsse jetzt sehen, wie man mit Anstand die Situation bereinigen könne. Mit Anstand hat das allerdings wenig zu tun, und so rational, wie der Satz klingt, geht es zwischen CDU und CSU auch nicht zu. "Dies ist unsere Stunde", hat Angela Merkel den Delegierten in Nürnberg zugerufen. Keiner hat geklatscht. Einmal, weil in der CSU ganz bestimmt keiner denkt, dass dies die Stunde der CDU-Vorsitzenden sein könnte. Vor allem aber, weil der Satz auch sonst nicht stimmt. Dies ist nicht die Stunde der Union.

Das wäre nicht so tragisch, wenn sich abzeichnete, dass diese Stunde vielleicht demnächst kommen könnte. Aber bei den Maßgeblichen wie beim Fußvolk von CDU und CSU setzt sich immer mehr ein zweiter Satz fest, in dem das neue Leitwort ebenfalls vorkommt: Wir können vernünftigerweise nur noch darauf hin arbeiten, mit Anstand zu verlieren.

Dieser Satz hat beträchtliche Folgen für die Kanzlerkandidaten-Entscheidung. So lange in der Union noch die Hoffnung umherspukte, man könne eine krisenanfällige rot-grüne Regierung mit etwas Glück aus dem Amt jagen, standen Angela Merkels Aktien bei strategisch denkenden Köpfen selbst in der CSU gar nicht schlecht. Das Argument überzeugte, die unkonventionelle, liberal denkende Frau aus dem Osten könne der Union neue Wählerschichten erschließen. Wählerschichten, die Edmund Stoiber nicht erreichen kann, weil der Bayer das Image des konservativen Hardliners nördlich der Main-Linie nun mal nicht los wird. Ein Duo Merkel-Stoiber hätte eine Idealbesetzung werden können: Angela Merkel für eine Neue Mitte der CDU im Scheinwerferlicht, Edmund Stoiber als Garant der reinen Lehre im Hintergrund.

Aber wenn die Zielvorgabe nicht mehr lautet: "Wie könnten wir gewinnen?", sondern in die bange Frage umschlägt: "Wie schrecklich wird die Niederlage?", treten die Potentiale der Kandidatin Merkel in den Hintergrund. Ihre Defizite beherrschen nun die Wahrnehmung. Dass umgekehrt Stoiber nur beim Stammpublikum ankommt, spricht plötzlich nicht mehr gegen, sondern für ihn: "Wenigstens das", sagen die Verängstigten.

Damit wird eine Spirale in Gang gesetzt, aus der für Merkel kaum ein Entrinnen ist. Alle ihre großen, kleinen und allerkleinsten Niederlagen werden sorgsam registriert; ihre kleinen Siege dagegen nicht. Dass sie in Nürnberg eine achtbare Rede gehalten hat, nützt ihr nichts, weil nur eine gewaltige Rede die Skepsis hätte wenden können. Und nur eine gewaltige Rede hätte die CSU-Führung mit dem Kandidaten Stoiber an der Spitze davon abhalten können, ihren Auftritt mit demonstrativ vorgeführter Geringschätzung von vornherein zum Scheitern zu verurteilen.

Wenn dieser Akt offener Illoyalität irgend einen Sinn gehabt haben soll, muss Stoiber als Kandidat antreten. Es entspricht der Analyse im eigenen Lager, dass dem CSU-Chef inzwischen der Vorwurf, vor einer unangenehmen Pflicht gekniffen zu haben, gefährlicher würde als eine Niederlage gegen Schröder mit - da ist es wieder, unser Wort - Anstand.

Angela Merkel weiß um ihre prekäre Lage. Aber sie gibt nicht einfach so auf, kann es auch gar nicht: Ohne die Kandidaten-Perspektive wird auch ihre politische Zukunft als Parteivorsitzende sehr überschaubar. Andererseits würde die CSU Stoiber nur zu gerne mit Anstand in die Kandidatur schicken und nicht als Ergebnis einer offenen Krise in der CDU. Also müsste Merkel zumindest der Form nach freiwillig verzichten. Zugleich wird der Zeitrahmen enger. Je länger die K-Frage offen bleibt, desto größer die Gefahr, dass die CDU alsbald in eine offene Führungskrise gerät.

Noch ist kein klares Szenario zu erkennen. Aber Merkel dürfte bald Besuch bekommen von Herren, die sie um ein sehr ernstes Gespräch ersuchen.

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