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Meinung: Kein Kult ums Ich

Im Sigmund-Freud-Jahr wird die große Askese gefordert – wie passt das in diese Zeit?

Vor über hundert Jahren, in der Dekadenz der Jahrhundertwende, sah der Held in Maurice Barrès’ autobiografischem Roman „Le Culte de Moi“ nur noch zwei Wege aus seiner Not, „se suicider ou se faire chrétien“. Entweder, denkt er sich, man scheidet aus dem Leben, oder man unterwirft sich einer höheren Ordnung.

Wenn der SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck nun für die aktuelle geistig-moralische Wende in Deutschland „bewährte Grundeigenschaften wie Anständigkeit, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung“ fordert, dann ist das der Ruf nach Unterordnung. Schon einmal ist der erklungen, und damals antwortete Oskar Lafontaine, dass man mit solchen Tugenden auch ein Konzentrationslager führen könne. Platzeck stellt sich also in jene Tradition, die aus der Schnittmenge von Helmut Schmidt und Helmut Kohl gebildet wird.

Dass Platzeck so etwas fordert, am Tag zwei des großen Freudjahres zu dessen 150. Geburtstag, ist ein Witz, der wie eine frühzeitige Warnung klingt vor jedem Lob der Introspektion, vor jeder narzisstischen Beschäftigung mit dem Selbst, das in diesem Jahr noch folgen könnte. Stellt euch nicht so an, so lautete schon immer die kleinbürgerliche Kritik an der Psychoanalyse, geht einfach arbeiten.

Die Warnung ist überflüssig: Sigmund Freud als intellektuell-ideologisches Referenzsystem hat ausgedient. Angeblich beschäftigen sich die meisten Berliner Therapeuten auch schon längst mit dem Buddhismus. An die Rettung des Ich durch Selbstfindung glaubt inzwischen kaum noch einer. Diese Vorstellung, die mit 1968 ff. noch einmal Konjunktur hatte, gehört ebenfalls zu dem Nachlass von Rot-Grün, den die Erben ausgeschlagen haben.

Selbst Michel Foucault, der die Selbstanalyse noch einmal zu einer gesellschaftlich produktiven „Sorge um sich selbst“ umformulierte, ganz im Sinne der Stoa, ist längst Geschichte. Der Glaube daran, sich selbst verändern zu können, hat in den letzten Jahrzehnten weiter abgenommen. Wenn alles angelegt, wenn Fettleibigkeit, Untreue und Pädophilie nur noch Folge der eigenen Gene ist, was nutzt dann die Arbeit an sich selbst? Die Natur hat die Kultur niedergerungen, das Selbst hat ausgedient. Sogar in Woody Allens neuem Film ist von Freud kaum noch die Rede. Wir sind jetzt so, wie wir sind.

Dass die ums Selbst kreisenden Jahre vorbei sein könnten, wird gerne konstatiert. Allein im vergangenen Jahr hat der Papst die Rückkehr der Religion bewirkt, Jürgen Klinsmann eine Nationalmannschaft auf Pflichtbewusstsein und Ehre eingeschworen, und die pragmatische Angela Merkel lebt Max Webers kühles Arbeitsethos. Deutschland unterwirft sich wieder einer höheren Ordnung, die Werte kommen zurück, um das Sinnloch zu füllen, das durch den Rückzug des Freudianismus entstanden ist – so selbstverliebt beschreiben das die neuen Asketen.

In Wirklichkeit hat jedoch nicht nur Freud seinen prägenden Einfluss eingebüßt, sondern auch die Hausierer der Tugend; mit den Psychiatern haben sich die Soziologen verabschiedet. Die Wahl, die Barrès’ Protagonist noch hatte, existiert nicht mehr, die Kirche kommt nicht wieder, selbst wenn Jürgen Habermas sich ihr plötzlich nähert.

Kurz vor dem Beginn des Freudjahres konnte man in einer Studie nachlesen, dass die Vereinsamung in Deutschland zunimmt, dass immer mehr Menschen allein leben, dass die Gesellschaft vereinzelt. Zu dieser geistig-moralischen Realität passt weder eine Couch noch eine neue Anständigkeit.

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