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Meinung: Keine Angst vorm gelben Mann

Alle fürchten sich vor Chinas Wirtschaftskraft. Doch das Land ist gar nicht so modern – weil die Diktatur seinen Aufstieg behindert

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" hieß früher das Spiel. Kaum hatte die Lehrerin diesen Satz gesagt, rannten wir Schüler schreiend von einer Turnhallenwand zur anderen. Künftige Generationen werden möglicherweise vor einem „gelben Mann" flüchten. Diesen Eindruck bekommt zumindest, wer die aufgeregten Berichte über Chinas Aufstieg verfolgt. Von einer „neuen Weltmacht" im Kampf der Zivilisationen wird da gewarnt, deren Militärausgaben jedes Jahr zweistellig wachsen. Einem „gelben Riesen", dessen Fabriken die Erde mit billigen Made-in-China-Produkten überschwemmen. Über Nacht, so scheint es, ist die Volksrepublik von einem armen Bauernstaat zur omnipotenten Großmacht aufgestiegen, die den Westen das Fürchten lehrt.

Das Reich der 1,3 Milliarden Menschen, bis vor kurzem noch als Zukunftsmarkt gefeiert, wird plötzlich von vielen im Westen als Bedrohung ihres Lebensstandards angesehen. Kaum eine Woche vergeht ohne Schreckensmeldungen aus Fernost. Als chinesische Autohersteller vor kurzem ankündigten, künftig auch nach Europa zu exportieren, sahen manche bereits das Ende der deutschen Autoindustrie voraus. Wenn die Chinesen nun auch massenweise Billigautos auf den Weltmarkt werfen, so die Unkenrufe, was bleibt da noch für die teuren deutschen Fabrikarbeiter übrig? Ähnlich die Reaktion auf Pekings Pläne, einen eigenen Magnetschwebezug zu entwickeln. Die bloße Ankündigung eines Staatsbetriebes, in Shanghai eine Teststrecke zu eröffnen, reichte aus, um in Deutschland eine Chinadebatte loszutreten. Während die einen lauthals gegen den angeblichen Technologiediebstahl wetterten – immerhin hatten deutsche Firmen erst vor drei Jahren den Transrapid nach Shanghai geliefert – sahen andere in der Ankündigung den Beweis, dass China nun auch Hightech produzieren kann. Gesehen hat den chinesischen Schwebezug bis heute niemand.

Chinas wirtschaftlicher und technologischer Aufstieg wird im Westen maßlos überschätzt. Gemessen am Lebensstandard der Menschen und am Technologiestand ist die Volksrepublik bis heute ein Entwicklungsland. Wer daran zweifelt, sollte einmal mit dem Zug durch das Hinterland reisen. Wie vor einem halben Jahrhundert in Europa rumpeln hier veraltete Züge über unebene Gleise – 2004 betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit gerade 65,7 Stundenkilometer. Weil es meist zu wenig Sitzplätze gibt, übernachten Wanderarbeiter in den Gepäcknetzen. Die Bordtoilette ist ein stinkendes Loch über den Gleisen. Die chinesische Bahn hat es bis heute nicht geschafft, ein zentrales Buchungssystem aufzubauen. Wer von Peking in die ehemalige Kaiserstadt Xian reist, muss hoffen, dass er nach der Ankunft ein Rückfahrticket ergattern kann. Und nun sollen Chinas Ingenieure plötzlich die Magnetschwebebahn beherrschen?

Noch übertriebener ist die Angst vor der chinesischen Autoindustrie. Der „Lu Feng" („Landwind") Geländewagen, der sich nun als erstes chinesisches Auto auch in Europa verkaufen soll, fiel durch alle Crash-Tests des ADAC. Aus gutem Grund kaufen Chinesen selbst lieber ausländische Autos. Wer sich heute in einen chinesischen Neuwagen setzt, darf sich nicht wundern, wenn er plötzlich die Fensterkurbel in der Hand hält oder wenn die Türverkleidung abfällt – so schlecht sind Verarbeitung und Qualität. Natürlich werden Chinas Autohersteller in den kommenden Jahren besser werden, zumal sie über einen rasch wachsenden Heimatmarkt verfügen. Vom Zusammenschrauben einiger Bleche und Monturen bis zur Entwicklung eines modernen Pkw ist jedoch ein langer Weg. Chinas Ingenieure können bis heute keine eigenen Motoren bauen. Die Hersteller kaufen sie in Lizenz im Ausland.

Auch die „Made in China"-Siegel, die heute auf hochwertigen Produkten wie Handys, Videokameras und Computern kleben, sind eine Täuschung. Als Herstellerland wird immer nur das Land genannt, in dem der letzte Arbeitsprozess stattfand, so verlangen es die internationalen Normen. Korrekter wäre für viele chinesische Güter jedoch die Beschriftung „Zusammengeschraubt in China". Die hochwertigen Teile werden meist aus Taiwan, Japan oder auch aus Deutschland angeliefert. In Chinas Fabriken werden oft nur die Arbeiten erledigt, wofür man viele Hände und wenig Know-how braucht.

Aber wen interessieren solche Details in der allgemeinen China-Euphorie. Westliche Manager fliegen nach Shanghai, sehen die glitzernde Skyline der Wolkenkratzer, speisen in durchgestylten Edelrestaurants und vergessen dabei, dass zwei Drittel aller Chinesen weniger als 40 Euro im Monat verdienen. Welcher Besucher in Peking weiß schon, dass in der Hauptstadt alle drei Jahre die Straßen neu geteert und die Gehwege neu gepflastert werden müssen, so schlecht ist die Qualität bei öffentlichen Bauprojekten. Schuld daran ist die Korruption. Wenn die Zentralregierung Geld für Infrastruktur bereitstellt, bedienen sich zuerst die Kader, von den Provinzen bis zum Landkreis. Was schließlich unten ankommt, reicht oft nicht einmal für den Zement. „Tofu Bauten" nannte der frühere Regierungschef Zhu Rongji die zu weich gebauten Brücken und Dämme, die gleich nach Fertigstellung wieder abgerissen werden müssen.

Das soll die Leistungen der Chinesen nicht schmälern. Seit Beginn der Öffnungspolitik Ende der 70er ist das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich neun Prozent gewachsen. Hunderte Millionen Menschen, die unter Mao höchstens von einem Fahrrad der Marke „Fliegende Taube" träumen durften, leben heute in bescheidenem Wohlstand, sparen auf eine eigene Wohnung oder ihr erstes Auto. Chinas rasanter Aufstieg ist eine Erfolgsgeschichte – einmalig ist sie nicht. Japan verzeichnete zwischen 1950 und 1973 ein stärkeres Wachstum als China heute – die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung verfünffachte sich in dieser Zeit. Auch Südkorea und Taiwan wuchsen in ihren Boomphasen schneller als die Volksrepublik. „In Anbetracht dessen, wo dieses Land stand, als 1978 die Wirtschaftsreformen eingeführt wurden, hätte China sogar noch schneller wachsen müssen", schreibt der Wirtschaftsautor Martin Wolf in „Foreign Affairs". Warum die Volksrepublik hinter den asiatischen Nachbarn zurückblieb, erklärt der Autor so: „Weil Chinas Wirtschaft bis heute in hohem Maße ineffizient ist."

Chinas Ökonomie hat zwei Gesichter. Da ist auf der einen Seite die vom Westen gefeierte Privatwirtschaft. Ein Paradies für Kapitalisten: Als Fabrikbesitzer in Shanghai kann man mit einem Wink Tausend Arbeiter anstellen und morgen, wenn die Produktion schlecht läuft, die Hälfte wieder entlassen. Kein Gewerkschafter protestiert, niemand kümmert sich um Umweltauflagen oder den Arbeitsschutz. Dafür gibt es, zumindest in den Küstenprovinzen, gut ausgebaute Straßennetze, riesige Häfen und modernste Flughäfen, um Güter in alle Welt zu verschicken. Es ist diese Kombination aus billigen Arbeitskräften und moderner Infrastruktur, die China als Produktionsstandort so attraktiv macht. Die Privatwirtschaft stellt jedoch bis heute nur den kleineren Teil der chinesischen Ökonomie dar. Weil die Regierung die Banken dazu zwingt, gehen zwei Drittel aller Kredite weiter an Staatsunternehmen. Diese reformresistenten Konglomerate dominieren das Baugewerbe, das Telekom- und IT-Wesen, die Bahntechnik, den Autobau und praktisch alle anderen wichtigen Branchen des Landes. Statt freier Wettbewerb herrschen Cliquenwirtschaft und Monopole.

Es ist ein immer wiederkehrender Irrtum des Westens, die wirtschaftlichen Erfolge Chinas der Kommunistischen Partei zuzuschreiben. Die einzige Leistung der Pekinger Führer bestand darin, dem unter Mao künstlich gefesselten Unternehmergeist der Chinesen wieder freien Lauf zu lassen. „Reich werden ist ehrenhaft", lautet 1979 die Losung des Reformpolitikers Deng Xiaoping. China verdankt seinen Aufstieg weder der Einparteienherrschaft noch den „schnellen Entscheidungswegen", die auch bei manchem westlichen Konzernchef hinter vorgehaltener Hand Bewunderung auslösen.

Die Ursachen für Chinas Prosperität liegen, so banal es klingt, in der Kultur. Nur wenige Weltanschauungen schätzen Bildung und Fleiß so sehr wie der Konfuzianismus. Familien kratzen ihren letzten Yuan zusammen, damit zumindest einer aus dem Klan zum Studium ins Ausland gehen kann. Schüler verbringen ihre Kindheit hinter Büchern, nur um es eines Tages auf die Universität zu schaffen. 100 Millionen Wanderarbeiter schuften an Fließbändern, oft sieben Tage die Woche, um das Startkapital für ein eigenes Geschäft oder ein Restaurant zu verdienen. Es ist dieser unbedingte Wille, sich zu verbessern, gepaart mit einem Hang zum Materialismus, der China antreibt. Zum chinesischen Neujahr und anderen Festen übergibt man keine Geschenke, sondern „hong bao" – rote Umschläge mit Bargeld. Bei Hochzeitsfeiern notiert die Familie der Brautleute die Beträge auf einer Liste. So weiß man, wie viel man selbst bei der nächsten Hochzeit geben muss.

Vieles spricht dafür, dass Chinas Boom auch in den kommenden Jahrzehnten anhält. So lange es im Hinterland einige Hundert Millionen verarmte Bauern gibt, die froh sind, wenn sie in einer Fabrik drei Euro am Tag verdienen, wird der chinesische Wirtschaftsmotor weiter brummen. Irgendwann wird jedoch auch in China diese erste Boomphase vom Entwicklungs- zum Schwellenland an ihre Grenzen stoßen. Länder wie Vietnam werden aufholen, die Ansprüche der chinesischen Arbeiter wachsen. In der Südprovinz Guangdong herrscht heute bereits ein Mangel an Arbeitskräften. Die Wanderarbeiter ziehen lieber nach Shanghai oder ins Jangtse-Delta, wo höhere Löhne bezahlt werden.

Langfristig wird China nur durch Innovation und Know-how den Anschluss an die führenden Industrienationen schaffen. Pekings Führer wissen das und investieren Milliardenbeträge in den Ausbau der Universitäten und Forschungszentren. Nationale Vorzeigeprojekte wie die Weltraumfahrt und die Gentechnik sollen die Volksrepublik zu einer führenden Wissenschaftsnation machen. Doch wie gut und kreativ können die Forscher eines Landes sein, dessen autoritäres Regime bis heute versucht, die Gedanken der Menschen zu kontrollieren? Ein Land, in dem in jeder Zeitung und in jedem Universitätsausschuss Zensoren der KP sitzen. Ein Staat, der Studenten für Jahre ins Gefängnis schickt, weil sie kritische Aufsätze ins Internet gestellt haben.

Mit Ausnahme von Singapur und einiger Ölnationen hat es bisher kein autoritäres System geschafft, den Menschen dauerhaft Wohlstand zu bringen. Auch Südkorea und Taiwan waren einst Militärdiktaturen, nicht unähnlich dem heutigen China. Aber erst als Demokratien konnten sie ihr wirtschaftliches Potenzial ausschöpfen. „Wandel durch Handel"? Nein, „Handel durch Wandel" sollte das Motto für Pekings Führer lauten.

Es ist nicht Chinas Aufstieg, der dem Westen Sorge bereiten sollte. Wenn es einem Fünftel der Menschheit gelingt, langfristig Stabilität und Wohlstand zu erreichen, ist das ein Gewinn für alle. Es wäre auch falsch zu glauben, dass Chinas Entwicklung unbedingt auf Kosten anderer Länder gehen muss. Die westlichen Industrienationen und vor allem Deutschland profitieren bislang kräftig vom wachsenden Handel mit China. Gefährlich wäre es für die Welt, wenn Pekings Experiment mit dem Kapitalismus scheitern würde. Nach dem Abschied vom Sozialismus und der Ideologie gibt es für den Machtanspruch der KP nur noch eine Grundlage: das jährliche Wachstum an Wohlstand, das auch die ärmsten Bauern bisher spüren. Doch wie stabil mag dieser Vielvölkerstaat in einer Krise sein, ausgelöst etwa durch Rezession und Massenarbeitslosigkeit? Würden Flüchtlingsströme in den Westen ziehen? Wer könnte Peking davon abhalten, in einer solchen Situation einen „patriotischen Krieg" gegen Taiwan zu führen?

Düstere Warnungen sind im Umgang mit China ebenso falsch wie blinde Euphorie. Doch genau diese Extreme prägten stets den Blick aus der Ferne. „Wer hätte einst gedacht, dass es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns ... in den Regeln eines noch kultivierteren Lebens übertrifft", schwelgte vor drei Jahrhunderten der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz. Für Max Weber war China Anfang des vergangenen Jahrhunderts der „kranke Mann Asiens". Die 68er stilisierten Maos Volksrepublik zur Heimat der wahren Revolution. China ist das Land, an dem sich unsere Meinungen polarisieren. Man kann es bewundern, lieben oder kritisieren. Aber fürchten? Für den ehemaligen Regierungschef von Singapur und Vordenker in Asien, Lee Kuan Yew, ist das keine Frage: „Es ist dumm, Angst zu haben."

Harald Maass

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