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Meinung: Können die Bürger bei Baugroßprojekten ausreichend mitreden?

Zur Berichterstattung über Stuttgart 21 Es ist nicht die Angst vor Veränderung der Antrieb für die Menschen gegen ein ehrgeiziges Bauprojekt auf die Straße zu gehen. Es ist auch nicht der Ärger über Sozialabbau, der ein sehr ergiebiges Thema für Demonstrationen wäre.

Zur Berichterstattung über Stuttgart 21

Es ist nicht die Angst vor Veränderung der Antrieb für die Menschen gegen ein ehrgeiziges Bauprojekt auf die Straße zu gehen. Es ist auch nicht der Ärger über Sozialabbau, der ein sehr ergiebiges Thema für Demonstrationen wäre. Es ist zum einen die Wahrnehmung, das sehr viel Geld ausgegeben wird, um der Bahn die Flächenverwertung zu ermöglichen und für die Ehre einen hypermodernen Durchgangsbahnhof zu besitzen, der womöglich nicht leistungsfähiger ist, aber mit Sicherheit umständlicher für Reisende. Geld für nix auszugeben ist aber den Menschen im Südwesten zuwider.

Während Hausbesitzern bürokratische Hürden drohen, wenn die denkmalgeschützte Fassade verändern werden soll, wird am Stuttgarter Bahnhof ein ganzer ebenso denkmalgeschützter Flügel abgerissen. Während Gärtner womöglich hohe Strafen in Kauf nehmen, wenn sie einen zu groß geratenen Baum absägen, werden hier majestätische Bäume der Baufreiheit geopfert. Die schwäbischen und badischen Menschen protestieren gegen politische Ungerechtigkeit.

Nun ist bei einer Demonstration die Situation eskaliert. Womöglich haben sich Legislative und Exekutive daran gewöhnt, dass öffentlicher Protest in Deutschland nicht alltäglich ist und sind nun mit der Lage überfordert. Deshalb greifen sie zu Wasserwerfern, Pfefferspray und Argumenten, die schon in den Tagen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nach polizeilichen Ausschreitungen aus dem Fundus geholt werden. Die Argumente werden dadurch weder edel noch richtig.

Die Entscheidung über den Bau von Stuttgart 21 sei korrekt zustande gekommen, betonen Regierende. Sie vergessen, dass Demokratie keine Formsache ist, bei der es darauf ankommt, die Stempel und Unterschriften in abgestimmten Fristen, vorgeschriebener Farbe und an korrektem Ort anzubringen. In einem demokratischen Prozess geht es vor allem darum, die Meinung aller zu berücksichtigen und nicht nur die Interessen der wirtschaftlich Starken. Vielleicht wollen sich die Herren Mappus und Rech ja lieber ein neues Volk wählen.

Diethelm Dahms, Berlin-Kaulsdorf

Sehr geehrter Herr Dahms,

ich denke, Sie haben mit Ihrem Leserbrief auf den Punkt gebracht, was viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland umtreibt: Es ist das Gefühl, die eigenen Lebensumstände nicht mehr gestalten zu können und politischen Entscheidungen hilflos ausgeliefert zu sein. Wir sind uns völlig einig, dass es für eine funktionierende Demokratie überlebenswichtig ist, dass sie auch „gefühlt“, erlebt wird. Deshalb finde ich Ihre Feststellung, „dass Demokratie keine Formsache ist“, wichtig und richtig. Ich möchte aber zu bedenken geben, dass unsere Freiheit auf zwei Säulen ruht: Dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip bewahrt die Demokratie vor dem Umkippen in die willkürliche Diktatur der Mehrheit. Wir sollten also keinesfalls das eine gegen das andere ausspielen. Eines der Mittel, dessen sich der Rechtsstaat zur Herstellung von Rechtsfrieden für alle bedient, ist ein transparentes Verfahren.

Eines der aufwändigsten Verfahren ist das Planfeststellungsverfahren, das auch bei Stuttgart 21 zur Anwendung kam. Dabei wird – anders als bei einer normalen Baugenehmigung – nicht einfach die vom Bauherrn beantragte Genehmigung erteilt (oder nicht erteilt), sondern eine umfassende Abwägung aller betroffenen Interessen vorgenommen. Alle, deren – weit verstandenen – Interessen durch das Projekt berührt werden, können Einwendungen erheben. Diese Interessen und viele weitere, z. B. auch Natur- und Denkmalschutzgesichtspunkte, werden dann einer umfassenden Abwägung durch die zuständige Behörde unterzogen. Keinesfalls wird also der gestellte Antrag einfach nur „abgenickt“.

Auch bei Stuttgart 21 sind fast alle Argumente schon im Verfahren vorgetragen worden. Weder die zuständige Behörde noch die unabhängigen Gerichte haben sie für durchschlagend befunden. Dazu gehört zugegebenermaßen nicht das Problem, ob das Ganze nicht zu teuer ist und das Geld anderswo sinnvoller ausgegeben wäre. Für die Überprüfung der Frage „zu teuer?“ gibt es aber unabhängige Einrichtungen – die Rechnungshöfe, die Geldverschwender unmissverständlich benennen.

Ganz ehrlich: Wollen wir diese Einrichtungen, um die uns viele Staaten in der Welt beneiden, entwerten, nur weil man nicht immer gewinnen kann? Ist es wirklich ein Kernbestandteil von Demokratie, die doch recht technische Frage „Kopfbahnhof“ statt „Durchgangsbahnhof“ außerhalb transparenter Verfahren zu entscheiden? Natürlich gehört zu diesen Fragen auch, ob es klug ist, die sofortige Verwirklichung der Lösung „Durchgangsbahnhof“ mit einem massiven Polizeieinsatz durchsetzen zu wollen. Alle Erfahrungen mit Großprojekten zeigen, dass eine über die Durchführung des Planfestellungsverfahrens hinausgehende Dialogbereitschaft sehr wohltuende Wirkung hat.

Ein eindeutiges Verdienst der Diskussion um Stuttgart 21 – unabhängig wie man zu ihr im Einzelnen steht – ist es in jedem Fall, auf die dringende Notwendigkeit eines Nachdenkens über die „Auffrischung“ der Demokratie hinzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen

— Prof. Dr. Jan Ziekow, Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung, Speyer

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