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Kolumne: Dr. Wewetzer: Stoppt die Jagd auf Dicke!

Hartmut Wewetzer fahndet nach guten Nachrichten in der Medizin. Heute: vom Nutzen der Pfunde.

Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht von einem Ministerium, einem Institut oder einer wissenschaftlichen Organisation vor den verheerenden Folgen von Übergewicht und Fettsucht gewarnt wird. Die Hatz auf Dicke ist in vollem Gang. Ich erspare Ihnen den Sermon, möchte aber leise Zweifel anmelden. Meiner Ansicht nach werden die gesundheitlichen Nachteile des Übergewichts überschätzt. Selbst die Folgen der Fettsucht, also von erheblichem Übergewicht, sind längst nicht immer so schlimm wie befürchtet oder behauptet, extreme Fälle ausgenommen. Entscheidender als ein paar Kilo zuviel auf der Waage ist die Fitness. Die ist wirklich wichtig, wie eine kürzlich erschienene Studie aufs Neue belegt.

Paul McAuley von der Universität Winston-Salem im US-Bundesstaat North Carolina hat 10 000 herzkranke Männer aller Altersgruppen über einen Zeitraum von im Mittel gut 13 Jahren beobachtet. Er untersuchte, wie sich Körpergewicht und Fitness auf das Überleben auswirkten. Das Ergebnis, veröffentlicht im Fachblatt „Mayo Clinic Proceedings“: Wer gut trainiert war, erlag deutlich seltener einem Herz- oder anderen Leiden. Wer fit ist, lebt länger. So weit, so bekannt. Und nun zum interessanten Teil der Studie. Als McAuley sich die Gruppe der sportlichen Herzkranken ansah, stellte er fest, dass die Überlebenschancen der Übergewichtigen und Fettleibigen besser waren als die der Personen mit normalem Gewicht. Erst bei deutlichem Übergewicht änderte sich das Bild. Ähnlich sah es bei den schlecht Trainierten aus. Mit dem Unterschied, dass in dieser Gruppe die Übergewichtigen am besten abschnitten, gefolgt von den Menschen mit leichter Fettleibigkeit. Erst an dritter Stelle lagen die Normalgewichtigen. Gefährlicher lebten nur die ganz Dicken.

Dass Übergewichtige und Menschen mit moderater Fettsucht in Sachen Gesundheit oft die besseren Karten haben, ist kein neues Phänomen. Schon vor zehn Jahren war Washingtoner Medizinern aufgefallen, dass Schwergewichtige („Adipöse“) mit verkalkten Herzkranzgefäßen seltener unter Komplikationen ihrer Krankheit zu leiden hatten und größere Überlebenschancen besaßen als Normgewichtige. Das widersprach der medizinischen Intuition (fett = krank), daher prägten die Herzspezialisten den Ausdruck Adipositas-Paradox.

Inzwischen entdeckten aufmerksame Ärzte weitere pfundige Widersinnigkeiten. So haben Übergewichtige die höchste Lebenserwartung, bei sportlichen Menschen fällt das Gewicht als Risikofaktor für das Überleben nicht ins Gewicht und viele Korpulente haben ein intaktes Herz und einen gesunden Stoffwechsel. Aber weil diese Tatsachen der Intuition widersprechen und nicht ins gängige Bild vom gefährlichen Dicksein passen, werden sie vom Mainstream in Medizin und Medien ignoriert. Die nächste alarmistische Pressemitteilung über Menschen mit morbider Leibesfülle ist sicher schon geschrieben. Dabei sollte die Botschaft lauten: Leute, bewegt euch – egal, ob dick oder dünn!

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegel. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht? Bitte an: sonntag@tagesspiegel.de

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