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Kommentar: Bundesregierung steckt bei Kinderarmut den Kopf in den Sand

Ihr Schicksal ist unser Schicksal: Zwei Millionen Kinder und Jugendliche leben von Hartz IV. Und die Bundesregierung geht vor wie Vogel Strauß.

Unter Kinderarmut in des Wortes doppelter Bedeutung leidet dieses Land. Deutschland ist arm an Kindern, und zu viele dieser Kinder sind arm dran. Zwei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18, davon 1,7 unter 15 Jahren, leben von Hartz IV. Das sind mehr als 15 Prozent des Nachwuchses in unserer alternden Gesellschaft, Tendenz steigend. Ob wir ihre Eltern für dumm oder benachteiligt, für faul oder schuldlos abgehängt halten – die Kinder sind unverzichtbar. Sie werden die Renten der Arbeitnehmer von heute erwirtschaften müssen. Ihr Weg entscheidet über unseren Wissens- und Wohlstand.

Als der Bundeshaushalt 2011 beschlossen wurde, blieb ein dicker Brocken unerledigt. Die Hartz- IV-(Kinder)sätze müssen neu gefasst und die im Haushalt vorgesehenen 480 Millionen Euro werden dafür nicht reichen. Das wurde mit Chipkarten bemäntelt oder beschwiegen. Von Anfang an hat die Bundesregierung nach Vogel-Strauß-Art den Kopf in den Sand gesteckt. Als das Wachstumsbeschleunigungsgesetz mit Milliardenbeträgen für Hoteliers, Erben, Kindergeld im Januar in Kraft trat, war absehbar, dass Karlsruhe im Februar die Hartz-IV-Kindersätze monieren würde.

Der Richterspruch war ein prekärer Moment für Schwarz-Gelb, sogar ein Bruchpunkt für den FDP-Chef. Der beklagten spätrömischen Dekadenz, die Guido Westerwelle in den Forderungen nach Erhöhung der Transfers ausmachte, setzte die Arbeitsministerin entgegen, es müsse nicht zwangsläufig um höhere Sätze gehen. Ursula von der Leyen begrüßte das von Karlsruhe angemahnte Recht auf kulturelle und Bildungsteilhabe ausdrücklich und kündigte Sachleistungen an.

Das gefällt und verfängt beim mittelschichtigen Publikum, das sich zu Recht als Lastenesel der Nation fühlt. Doch von der Leyens Bildungschip war nur eine blendende Idee, die bei Kennern der Verhältnisse wenig verfing und wie eine Leuchtrakete schnell verglüht ist. Denn die Sache dieser Kinder, ob Chip, Gutschein oder Bargeld, kostet nun einmal Geld. Wahr ist und bleibt, dass dringlicher als jede Form direkter Familienförderung eine verlässliche öffentliche Infrastruktur von Kindereinrichtungen, von Ganztagsschulen und Hochschulen ist. Absolut vorrangig sind Kitas und Schulen mit Sprachförderung, Musik, Sport und individuellen Nachhilfen gerade für Kinder, die von Hartz IV leben. Und muss es für eine christliche Bundesregierung nicht aussprechbar sein, dass 215 Euro monatlich für ein Kind einfach verdammt wenig sind?

Merkels Koalition hat viel Geld direkt in Familien gesteckt – Gießkannenpolitik statt Bildungsausbau, zudem eine, von der die bedürftigsten 15 Prozent aller Kinder gar nichts haben. Schwarz-Gelb übernimmt den Länderanteil für das neue einkommensunabhängige Studienstipendium und bleibt beim Bafög stecken. Das alles kann man ungerecht nennen, aber das ist nicht einmal entscheidend. Taktische Zwänge verstellen die öffentliche Debatte über ein existenzielles Zukunftsproblem. Das ist deprimierend unpolitisch.

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