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Missbrauch und Kirche: Aus den Dornen wird eine Krone

Das Opfer ist mächtiger als die Mächtigen: Was die Kirche aus den Missbrauchsfällen lernen kann.

Ich bin noch nicht so weit, aus einer Beobachterposition heraus über die Lawine sprechen zu können, die mein Brief vom 20. Januar 2010 an die betroffenen Jahrgänge des Canisius-Kollegs der 70er und 80er Jahre ausgelöst hat. Ich bin noch nicht einmal so weit, ermessen zu können, wie groß die Lawine ist, die in diesen Tagen über die Kirche hinwegfegt, über Schulen, Vereine und Familien, über Deutschland, Holland, Europa. Doch beeindruckt mich in diesen österlichen Tagen und Wochen die Kraft, die das Wort der Opfer hat. Es hat eine Lawine zum Rollen gebracht und hält sie am Rollen. Alle Versuche der Angesprochenen, sich der Wucht der Lawine zu entziehen, erweisen sich als ohnmächtig. Im Gegenteil: Sie verstärken die Lawine.

1. Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt rütteln an den Grundfesten von Kirche und Gesellschaft. Sie gefährden die Fähigkeit zu vertrauen. Ohne Vertrauen kann keine Gesellschaft leben. Kontrolle ist zwar gut, aber Vertrauen ist besser. Das wird besonders deutlich gerade an den Beziehungen, in denen Vertrauen prinzipiell niemals von Kontrolle ersetzt werden kann – in den asymmetrischen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Ärzten und Patienten, Seelen und Seelsorgern. Die Schutzbefohlenen geben in diesen Beziehungen – mehr unbewusst als bewusst – einen einseitigen Vertrauensvorschuss. Gerade deswegen sind sie auch besonders wehrlos und ausgeliefert. Durch das, was sie sind, sind sie unvermeidlich auf Schutz und Fürsorge angewiesen. Es ist gut, wenn in den letzten Jahrzehnten Gewalt in diesen intimen, asymmetrischen Beziehungen öffentlich sichtbar gemacht worden ist und als Straftatbestand gilt. Aber man hat noch nicht alles getan, was nötig ist, wenn man die Kontrollinstanzen verstärkt. Denn auch die Kontrolleure setzen voraus, dass man ihnen vertraut. Vertrauen aber ist gerade das, was zerstört wird, wenn Macht missbraucht wird. Auch Kontrolle funktioniert nicht, wenn Vertrauen zerstört ist. Kein Jugendamt kann die Mutter ersetzen, kein Polizist den Lehrer. Jede Gesellschaft ist verwiesen auf die zentralen Beziehungen des Lebens – Eltern-Kind, Lehrer-Schüler, Seele-Seelsorger. Hier werden die Bedingungen dafür gelegt, ein Leben lang Vertrauen geben und nehmen zu können.

2. Was aber, wenn dieses Vertrauen durch Missbrauch und Gewalt von Eltern, Lehrern oder Priestern zerstört worden ist? In der christlichen Frömmigkeit gibt es die Übung der „Betrachtung des Gekreuzigten“. Da geht es darum, sich in den Schmerz des Gekreuzigten einzufühlen. Dasselbe geschieht in den Passionsliedern der Reformation: „O Haupt voll Blut und Wunden“ singt die Gemeinde, das Leiden Christi betrachtend. Wer sich dem Thema Missbrauch nähern will, muss sich zunächst einmal dem Leiden der Opfer betrachtend nähern. Was bedeutet es, wenn ich als Kind oder Schutzbefohlener von dem Menschen, dem ich auf die ursprünglichste, spontanste Weise vertraue, missbraucht werde? Was bedeutet dies nicht nur für den Moment des Missbrauchs, sondern für den Rest meines Lebens? Für meine Fähigkeit zu vertrauen? Für mein Verhältnis zu Schule, Kirche, Familie, deren Repräsentant der Missbrauchstäter war?

Missbrauchsbetroffene sind Opfer im Sinne von „victim“. Sie sind wehrlose Objekte von Gewalt. Die Kreuzigung ist ein plastisches Bild dafür. Ein Mensch am Kreuz ist der Gewalt ganz und gar ausgeliefert, nicht nur physisch, sondern auch seelisch. Der Schrei des Gekreuzigten „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ bringt das Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit des Opfers zum Ausdruck. Denn auch dies gehört zu der Erfahrung der Opfer: Einsamkeit. Die Missbrauchserfahrung ist unaussprechlich, sogar vor mir selbst. Gerade weil sie in einem Vertrauensverhältnis geschieht, stürzt sie mich in die Unsicherheit darüber, ob das, was ich erlebt habe, wirklich Gewalt ist, oder ob es sich um etwas „Normales“ handelt, als das der Täter es vorgibt.

In die Einsamkeit führt die Opfererfahrung aber auch deswegen, weil niemand die Geschichte des Opfers hören oder gar glauben will. Hier tritt der zweite Aspekt des Opferseins hervor: Opfer sind „sacrifice“, Geopferte. Da die Geschichte des Opfers die Ehe der Eltern, das Ansehen der Institution, den Frieden der Gemeinde gefährdet, gibt es kein Interesse daran, sich der Erzählung des Opfers zu öffnen. Das Opfer lebt gefährlich, weil es mit seiner Erfahrung das System gefährdet, in dem es lebt. So muss es „geopfert“, zum Schweigen gebracht werden. „Besser ist, dass ein Mensch für das Volk stirbt, als dass das ganze Volk zu Grunde geht“, sagt Kajaphas im Johannesevangelium, um das Todesurteil über Jesus zu begründen. Eben diese banale Logik opfert die Missbrauchsbetroffenen auf dem Altar der Institution, des Familiensystems, des guten Rufs der Schule. In dieser Logik erscheint das Opfer winzig klein und die Institution riesig groß. Doch damit wird das Opfer (victim) zum Geopferten (sacrifice).

Die Opferung ist die Fortsetzung des Missbrauchs. Gewalt gegen Schutzbefohlene, gerade auch in ihrer besonders schlimmen Form der sexualisierten Gewalt, wird in dem Moment zu struktureller Gewalt, wo die zum System Gehörigen die Ohren verschließen vor der Stimme des Opfers. Dass dies vielerorts geschehen ist, wurde in den letzten beiden stürmischen Monaten auf erschreckende Weise deutlich. Der Blick bloß auf die Missbrauchstäter im engeren Sinne ist zu kurz, um den Missbrauch zu begreifen.

3. Ist es ein Kompliment des lieben Gottes an die Kirche, dass es ausgerechnet kirchliche Institutionen sind, in denen zuerst Missbräuche aufgedeckt wurden? Im christlichen Glauben steht jedenfalls mit dem Blick auf den Gekreuzigten das Opfer im Zentrum. Die Ereignisse und Verfehlungen weisen die Kirche überdeutlich darauf hin. Schon das Verhalten der Jünger gegenüber dem Gekreuzigten war beschämend. Die Abwendung vom Opfer auch innerhalb der Kirche ist nichts Neues. Doch es gibt auch die überraschende Blickwende, von der Ostern berichtet. Die Jünger erkennen, dass auch sie versagt haben. Doch mit eben dieser bitteren Selbsterkenntnis verbindet sich ein grundlegendes Umdenken, die „meta-noia“, zu der Christus am Anfang seiner Predigt aufrief. Zum einen ist da die grundlegende Erkenntnis, dass das Opfer nicht schuld ist. Weder ist es schuld daran, dass es zum Opfer wurde, noch ist es schuld daran, dass es die Institution, das Volk, die Familie gefährdet mit dem, was es zu sagen hat. Schämen muss sich nicht das Opfer, sondern schämen müssen sich die, die es dazu machen.

Daraus ergibt sich schließlich eine weitere Einsicht: Das Opfer ist mächtiger als die Mächtigen in Volk, Familie und System. Das gilt auch heute für die Machtfrage in der Kirche: Die Macht kommt von Christus. Das Christentum braucht nur sein eigenes Glaubensbekenntnis ernst zu nehmen: „Auferstehung des Fleisches“. Es begegnet der Macht Christi in der Macht der Opfer.

Dabei geht es keineswegs um eine platte Identifikation von Missbrauchsopfern mit Christus. Die Macht der Opfer ergibt sich aus dem, was sie zu berichten haben, aus ihren Erfahrungen, nicht aus einem eigenen Willen zur Macht. Ebenso wenig muss Christus mächtig sein wollen, um mächtig zu sein. Er ist es durch das, was er ist und erfahren hat. Er muss sich dabei gar nicht mächtig fühlen. Im Gegenteil: Wenn er seine Macht nutzen will, um zu herrschen, um sie zu genießen, um anderen seinen Willen aufzuzwingen, dann ist er selbst ein Missbrauchstäter. Genauso kann auch ein Opfer zum Täter werden. Ein Gott, der nicht missbraucht, ist jedenfalls ein Gott, der nicht vom Willen zur Macht getrieben ist, sondern dessen Macht im Dienst der Freiheit steht.

4. Äußerste Ohnmacht und äußerste Macht kommen im Opfer zusammen. Dies lässt sich auch von innen her, aus der Opferperspektive nachvollziehen. Opfer von Missbrauch wehren sich gegen die Vorstellung, bloß als Opfer gesehen zu werden. Im Moment des Missbrauchs sind sie tatsächlich entwürdigt zum bloßen Objekt von sadistischer, sexualisierter und anderer Gewalt. Doch mit dem Tag des Missbrauchs beginnt ein Kampf um die eigene Würde, ein Überlebenskampf. Darin wird das Opfer zum Kämpfer, zur Kämpferin, zum Subjekt. Es kann Jahrzehnte dauern, bis ein Opfer schließlich sagt: Ich habe den Missbrauch überlebt. Mit dem Überleben hat das Opfer wieder den Status des Subjekts erreicht, eine Freiheit, die stärker ist als die niemals bedrohte Freiheit der Unverletzten – weil sie eine erkämpfte Freiheit ist. Der Überlebende, man könnte vielleicht auch sagen: Der Auferstandene kann das Unaussprechliche aussprechen. Er hat die Kraft, sich gegen das Totschweigen durchzusetzen, gegen die mächtigen Interessen, die dahinterstehen; gegen die Versuche, ihn oder sie zum Schweigen zu bringen, in die Logik des Vertuschens hineinzuziehen, in die Angst vor Anfeindung und Gewalt.

Biblisch gibt es zwei Begriffe, um das Geschehen von Ostern auszudrücken: „Christus ist von den Toten auferweckt worden“, und: „Christus ist von den Toten auferstanden“. Die erste Formulierung betont das Wirken Gottes an Christus, die zweite Formulierung hingegen die Eigentätigkeit Christi. Die Formulierungen sollen hier nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber doch scheint in diesen Tagen, in denen durch Deutschland und durch die Kirche der Sturm der Aufklärung und Aufdeckung tobt, die zweite Formulierung besonders hilfreich zu sein, um eine Perspektive über den Sturm hinaus zu gewinnen. Die Kirche begegnet dem Auferstandenen in den Opfern, wenn sie in den Opfern nicht bloß die Opfer erkennt und würdigt, sondern auch die Kämpfer, die Kämpferinnen, die Subjekte. Die Missbrauchsbetroffenen sind nicht mehr „bloß“ die Schutzbefohlenen, als die sie missbraucht und abgewiesen wurden. Sie haben etwas zu sagen, was über ihre bloße Opfergeschichte hinausgeht. Sie haben im Überlebenskampf Erfahrungen mit der Kirche, mit der Hierarchie, mit ignatianischer Pädagogik, mit Reformpädagogik und anderer Pädagogik gemacht, von der etwas zu lernen ist. Die Befreiungstheologie prägte einmal den Ausdruck von der „Schule der Armen“, in der die Kirche lernen könne. Der Dialog mit den „Auferstandenen“ ist eine Gelegenheit zu lernen – für Kirche, für Schul- und Internatspädagogik, für Recht und Politik.

5. Wer im Nebel ist, muss auf Sicht fahren. Doch das muss kein Dauerzustand bleiben. Mit Ostern verbindet sich eine Hoffnung, welche das jetzt Aussprechbare übersteigt. Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. In der Lawine muss man den Sinn des Ganzen noch nicht (voll) begreifen, aber er wird sich zeigen, Stück für Stück, vielleicht plötzlich ganz.

Zum zitierten Spruch des Kajaphas fügt der Evangelist eine Bemerkung hinzu: „Das sagte er nicht aus sich selbst, sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er es aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das ganze Volk sterben werde.” So wird der Opferpriester des Institutionskultes und Machtkalküls von Gott her, vom Ende her verhöhnt. Gott macht ihn zur Puppe, die nach seiner Melodie tanzt: „Ich nutze Deine Macht, um daran meine Macht zu zeigen.“

Wie das geht, kann man an der Geschichte Jesu ablesen. Jesus wird von Kajaphas geopfert, doch Gott macht dieses Opfer zu seinem Opfer, zu seiner Gabe an die Menschheit. Die Gewalt gegen das Opfer wird zur Zeugin der Wahrheit; je mehr sie schreit „weg, weg mit ihm“, um so mehr stellt sie das Opfer in den Mittelpunkt; auf den Berg; auf den Thron. Die Angst Jesu wird zum Ort des totalen Vertrauens Jesu. Aus den Dornen wird eine Krone. Aus dem Hohn Anbetung. Aus den Elementen der herunterdonnernden Lawine entsteht ein wohnliches Haus: Eine Kirche, die keine Angst um sich selbst hat; Schulen, in denen es tatsächlich um die Würde der Schüler geht; Krankenhäuser, in denen es um die Bedürfnisse der Patienten geht; Familien, in denen Vertrauen in Freiheit gelingt.

P. Klaus Mertes SJ

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