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Gastkommentar: Norbert Blüm: Die neoliberale Revolution frisst ihre Kinder

Die Finanzgenies hielten sich für die neuen Götter der Globalisierung. Die Turmbauer von Babel waren im Vergleich mit den neuen Finanzherren der Welt bescheidene Leute. Eine kurze, pointierte Geschichte der Krise.

Von allen Märchen, die meine Mutter mir erzählte, hat das von des Kaisers neuen Kleidern mir am meisten Spaß gemacht. Über die Blamage des eitlen Kaisers, der für vermeintlich schöne Kleider sein ganzes Geld ausgibt, in Wahrheit aber nackt ist, habe ich immer schon herzhaft laut gelacht. „Des Kaisers neue Kleider“ ist die märchenhafte Antizipation der Finanzkrise 2008. Stellen wir uns vor, der Kaiser hätte Analysten, Bankexperten, Ratingagenturen, gar kluge Professoren an die Börsen der Welt geschickt, um den universalen Reichtum und die globale Konjunktur zu bestaunen. „Die Aussichten sind prima“, hatten sie allesamt gemeldet. Die Staatslenker der G 7 lobten noch zu Beginn des Jahres 2008 die robuste Weltkonjunktur. Mitte Juli 2008 erklärte das Deutsche Institut für Wirtschaft: „Der Aufschwung geht in Verlängerung.“ Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut gab selbst nach dem Zusammenbruch von Lehman-Brothers noch Entwarnung für alle Befürchtungen. Keiner der „gescheiten Leute“ hat das Desaster kommen sehen. Nie hat sich eine Zunft, die das Etikett Wissenschaft in Anspruch nimmt, mehr blamiert als die der Ökonomen. Sie ist auf dem Seriositätsstatus der Astrologie gelandet. Die Suggestion des Finanzkapitalismus wurde mit der Realität von Gütern und Dienstleistungen verwechselt. Erwartungen wurden für Wirklichkeit gehalten. Illusion, Hoffnung und Erwartung stapelten sich wechselseitig hoch.

Kredite sind Erwartungen auf Rückzahlung. Erwartungen, welche jedoch an keine reale Wahrscheinlichkeiten gebunden sind, gleichen dem Geld, hinter dem keine Arbeit steht, und beide ähneln den Hohlräumen, die mit heißer Luft gefüllt sind. So etwas nennt man im Zirkus „Seifen-“ und in der Bankenwelt „Finanzblasen“. Blasen steigen in die Luft, werden von erstaunten Ah- und Oh-Ausrufen begleitet – und platzen.

Geld ist der Stoff, aus dem die Illusionen des Finanzkapitalismus geschneidert sind. Wie weit die Täuschung getrieben ist, zeigt sich bei dem unwidersprochenen Versprechen, dass „Geld arbeitet“. Ich habe noch nie auch nur einen Cent arbeiten gesehen. Geld macht keinen Finger krumm. Geld schafft keine Werte. Geld ist seiner Natur nach nur ein wirtschaftliches Mittel. Ein nützliches Vehikel, wenn es eingesetzt wird als Tauschmittel, als Recheneinheit oder zur Aufbewahrung von Werten – mehr nicht!

Die großen Finanzkapitalisten und ihre intellektuellen Hehler haben das Geld jedoch mit einer Wertschöpfungsillusion ausgestattet. Dem Geld wurde mit dem gleichen Trick, mit dem die vermeintlichen Hofschneider des Kaisers arbeiteten, eine Rolle zugeschanzt, die ihm nicht zukommt. Das Geld hat sich von seinem instrumentalen Charakter emanzipiert. Das Mittel ist zum Zweck geworden. Geld maßt sich Eigenschaften an, die herkömmlicherweise Substanzen und Subjekten eigen ist. Geld ist jedoch weder Ursache noch Ziel. Geld maskiert sich als Produkt und erschleicht sich in Form von „Finanzprodukten“ auch den Namen dafür. Die Welt wird vom Geld überschwemmt. Wo ist das Kind, das die Nacktheit der Geldwirtschaft aufdeckt?

Auch der Sozialstaat geriet unter die Fuchtel des Finanzkapitalismus. Weltweit sollte das an die Arbeit gebundene Umlagesystem durch Kapitaldeckung ersetzt werden. Nachdem die Privatisierung aller Lebensbereiche abgegrast war, selbst der Strafvollzug, Polizei und Soldaten von dem Privatisierungshunger erfasst worden waren, blieb nur noch der Sozialstaat als Weideland. Der Versuch blieb vorerst stecken, er kam zum falschen Zeitpunkt. Es spricht sich langsam herum: Billiger ist die Kapitaldeckung nämlich auch nicht als die Umlagefinanzierung, gegen demografische Veränderungen entgegen anderslautender Meldungen auch nicht immun, und sicherer eh nicht.

Eine Erfolgsstory ist jedenfalls die Privatisierung der sozialen Sicherheit nicht geworden und wird sie auch nicht. Das teuerste, dabei noch miserabelste Gesundheitssystem ist zum Beispiel das privatisierte, kapitalgedeckte System der Vereinigten Staaten von Amerika. Als Generalrezept der sozialen Sicherheit taugt Kapitaldeckung nicht, weil es gar nicht so viel Kapital gibt, wie dazu nötig wäre.

Es gilt für die Sozialpolitik speziell, was für die Wirtschaft generell richtig ist. Die „Quelle des Wohlstandes der Völker“ ist die Arbeit. Das wusste jedenfalls schon Adam Smith. Seine neoliberalen Urenkel sind leider nicht mehr so gescheit, wie er war.

Sprichwortgemäß kommt der Hochmut vor dem Fall. Die Finanzgenies hielten sich für die neuen Götter der Globalisierung. Die Turmbauer von Babel waren im Vergleich mit den neuen Finanzherren der Welt geradezu bescheidene Leute. Die Arroganz der Ignoranz kannte offenbar keine Grenzen mehr. Nun rufen die Banker den Staat zu Hilfe, den sie einst außer Betrieb setzen wollten. Die ausgezogen sind als Deregulierer und Privatisierer, kehren mit zerrissenen Hosenbeinen als Verstaatlicher zurück.

Die neoliberale Revolution frisst ihre Kinder.

Der Autor ist Mitglied der CDU und war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit.

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