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Nahost: Israel ist die Fortsetzung des Judentums ...

... mit anderen Mitteln: An diesem Dienstag wird in einem Land gewählt, in dem nur der Wahnsinn normal ist.

Nachdem in den USA der Kandidat zum Präsidenten gewählt wurde, dem auch mindestens 70 Prozent der Deutschen ihre Stimme gegeben hätten, richtet sich der Blick nun nach Israel, wo am kommenden Dienstag gewählt wird. Dort aber ist die Situation ein wenig komplizierter, denn es treten nicht ein Guter und ein weniger Guter gegeneinander an, sondern drei Böse: der böse Ehud Barak, der den letzten Krieg in Gaza mit "unverhältnismäßiger Härte" geführt hat, die böse ehemalige Mossad-Mitarbeiterin Zipi Livni, die auf keinen Fall mit der Hamas verhandeln möchte, und der ganz besonders böse Benjamin Netanjahu, der vor kurzem erklärt hat, Israel habe den Krieg in Gaza zu früh beendet.

Anders als bei der Wahl des US-Präsidenten wissen die Deutschen diesmal also nicht, wem sie ihre Stimmen geben würden. Vermutlich würden sie Wahlenthaltung üben. Dafür kann man jetzt schon Kommentare lesen, deren Verfasser fest davon überzeugt sind, dass nach den israelischen Wahlen der "Friedensprozess" ins Stocken geraten und - im schlimmsten aller Fälle, mit der Wahl von "Bibi" - den Geist aushauchen wird.

Ginge es nach den Zaungästen, die den Nahostkonflikt von Berlin, München und Frankfurt betrachten, wäre Israel gut beraten, wenn es erstens sofort Verhandlungen mit der Hamas aufnehmen und zweitens alle Grenzübergänge nach Gaza öffnen würde, nicht nur um den freien Verkehr von Menschen und Gütern zu ermöglichen, sondern auch um Selbstmordattentätern und anderen Widerstandskämpfern die Arbeit zu erleichtern. Israels Forderung, erst müsse die Hamas den Raketenbeschuss einstellen, wird als eine Zumutung empfunden, denn: Wie soll die Hamas die Öffnung der Grenzübergänge erzwingen, wenn sie auf den Einsatz von Raketen verzichtet?

Die Israelis können nicht gewinnen

Ein bekannter deutscher Nahostexperte hat vor kurzem verfügt, Israel habe kein Recht, sich gegen Raketenangriffe zu verteidigen, denn ein Recht auf Selbstverteidigung stehe nur dem Besetzten zu, nicht dem Besatzer. Deswegen wird auf Demos in Köln, Dortmund und Oberhausen die Situation in Gaza mit der im Warschauer Ghetto verglichen, wo ein paar schlecht bewaffnete Juden die ihnen weit überlegenen NS-Einheiten in einen zwar aussichtslosen aber heroischen Kampf verwickelt hatten.

Der Vergleich ist insofern richtig, als diesmal die Israelis in einer No-win-Situation sind. Obwohl militärisch überlegen, können sie den Kampf nicht gewinnen, weder militärisch noch politisch. Egal wie "unverhältnismäßig" sie ihn führen, wie viele Einsätze sie fliegen und wie viele Kombattanten und Zivilisten sie dabei töten, am Ende kommen die Hamas-Leute aus den Ruinen, zeigen das Victory-Zeichen und verteilen Schecks an die Opfer der Angriffe, die sich für so viel Hilfsbereitschaft brav bedanken, ohne darüber nachzudenken, wem sie ihre Notlage zu verdanken haben. Derweil freut sich Israel über eine Verschnaufpause, deren Dauer von der Hamas bestimmt wird.

Und so greift inzwischen auch in Europa langsam die Einsicht um sich, dass es sich um einen Konflikt handelt, der nicht gelöst, sondern nur verwaltet werden kann. Wollten die Europäer früher die ganze Region in einem Aufwasch befrieden, wären sie später froh gewesen, wenn sie es geschafft hätten, wenigstens die Israelis und die Palästinenser am Verhandlungstisch zu entwaffnen, setzen sie sich nun dafür ein, die Grenze zwischen Gaza und Ägypten von einer internationalen Truppe überwachen zu lassen.

Der Konflikt wird noch einige Generationen dauern

Allerdings gibt es in der Region bereits sechs internationale Truppen , die vor allem damit beschäftigt sind, die Lage zu beobachten und Zwischenfälle zu protokollieren: UNTSO, UNDOF, UNIFIL, MFO, TIPH und EUBAM. Anzunehmen, dass es einer siebten Truppe gelingen könnte, das zu erreichen, was die anderen sechs nicht geschafft haben, nämlich einen zwölf Kilometer langen Grenzstreifen zu kontrollieren, ist mehr als naiv, es ist vermessen. Wieder einmal möchten die Europäer offenbar bloß der Welt beweisen, dass sie zu mehr imstande sind, als Konferenzen auf dem Petersberg zu veranstalten oder Decken und Milchpulver in Krisenregionen zu schicken.

Bei realistischer Betrachtung der Lage kann man davon ausgehen, dass der Konflikt noch einige Generationen dauern und viele Opfer kosten wird. Und wenn er überhaupt je gelöst werden kann, dann nicht durch eine militärische Option oder einen politischen Kompromiss, zu dem beide Seiten derzeit nicht willens sind, sondern durch eine technologische Intervention, die Brennstoffzelle zum Beispiel. Sie würde nicht nur langfristig die Abhängigkeit Europas vom arabischen Öl beenden, sondern sie würde die apokalyptische Dimension des Konflikts auf seinen Kern reduzieren: den Streit unter Verwandten über ein Stück Land in einer Region, in der außer dem Wahnsinn nichts normal ist. Und die Europäer kämen endlich dazu, sich auch um das Schicksal der Tamilen auf Sri Lanka, der Baha'i im Iran und der Menschen in Darfur zu kümmern, statt sich immer nur mit den Opfern des "Holocaust in Gaza" zu solidarisieren.

Zurück ins Ghetto

Wie in dem alten Witz - "Wie ist so deine Frau im Bett?" - "Ach, die einen sagen so, die anderen so" - kann man sich auch im Palästinakonflikt eine Perspektive aussuchen. Derzeit wird nicht nur unter linken Antizionisten, sondern auch unter "progressiven" Juden die Frage diskutiert, ob die Gründung Israels nicht ein Fehler war, den man korrigieren sollte, um der Welt ein Unheil zu ersparen. In diesem Zusammenhang rückt die "One-state-solution" wieder in den Blick, eine elegante Umschreibung für die Liquidierung des jüdischen Staates. Sogar Muammar al Ghaddafi hat soeben vorgeschlagen, Israel und Falastin zusammenzulegen und das neue Gebilde "Isratin" zu nennen. Ghaddafi mag seinen Vorschlag nicht ganz ernst gemeint haben, trotzdem wird er als Ausweg aus einem Dilemma diskutiert: Die Israelis müssten nur ihre Souveränität gegen ein vages Versprechen von Sicherheit tauschen, um in "Isratin" bleiben zu dürfen.

Damit wäre die zionistische Idee dort angekommen, wo sie vor mehr als hundert Jahren ihren Anfang nahm. Im Ghetto. Theodor Herzl und die anderen Väter des Zionismus hatten zweierlei im Sinn: Selbstbestimmung für das jüdische Volk und ein Leben in Sicherheit für die Juden, die es leid waren, von einem Pogrom zum anderen gejagt zu werden.

Ein Angriff Irans wird nicht ausgeschlossen

Die Idee der Souveränität hat sich erfüllt. Israel macht, was es will, und lässt sich nicht einmal von den USA sagen, was es tun oder unterlassen soll. Die Vorstellung von einem Leben in Sicherheit aber hat sich als Illusion erwiesen. Nirgendwo auf der Welt, hat schon der Philosoph Jeshayahu Leibowitz erkannt, würden Juden so gefährlich leben wie in Israel, nirgendwo auf der Welt sei die Wahrscheinlichkeit, als Jude umgebracht zu werden, so groß wie in Israel. Das Leben in der Diaspora war auch voller Risiken, die Verteilung der Juden auf viele Länder reduzierte aber die Aussicht auf einen Super-Gau. Sogar die industrielle Massenvernichtung, die von den Nazis erfunden wurde, war ein höchst aufwendiges und kompliziertes Unternehmen: Was mussten die Nazis nicht alles anstellen, um die Juden in den Tod zu treiben. Konzentrationslager bauen, Güterzüge zusammenstellen, Einsatzkommandos aufstellen, Gewaltmärsche organisieren, Kollaborateure anheuern, olympische Spiele veranstalten, um die Weltöffentlichkeit zu täuschen - und am Ende die Spuren verwischen. Dennoch haben genug Juden überlebt, um hinterher als Zeugen aufzutreten. Das war im Masterplan der Nazis nicht vorgesehen.

Inzwischen ist die Technik weiter. Mahmud Ahmadinedschad braucht bald nur einen Knopf zu drücken, um die zweite Endlösung der Judenfrage in die Tat umzusetzen. Nicht nur Hysteriker, die grundsätzlich mit dem Schlimmsten rechen, auch seriöse Historiker wie Benny Morris mögen eine solche Möglichkeit nicht ausschließen. Derweil halten sich europäische Nahost-Interpreten mit der Frage auf, ob der iranische Präsident Israel von der Landkarte oder nur aus den Annalen der Geschichte ausradieren möchte.

Sie machen, was sie für richtig halten

Dass die Israelis nicht abwarten möchten, ob die Drohung ernst gemeint oder nur eine Propagandaübung ist, wird ihnen jetzt schon übel genommen. Und im gleichen Atemzug werden die Raketen, die aus dem Gaza-Streifen nach Israel abgefeuert werden, als "selbst gebastelt" verharmlost. Witzigerweise oft von denselben Leuten, die an jedem Gedenktag die Frage stellen, warum die Juden damals "wie Schafe zur Schlachtbank" gegangen sind. So leisten die Juden immer einen Beitrag zum eigenen Untergang: Mal, indem sie sich nicht wehren, mal, indem sie "unverhältnismäßig" reagieren. Das Einzige, worauf sie sich verlassen können, ist, dass sie es ihren Freunden und Feinden nicht gleichzeitig rechtmachen können.

Und deswegen machen sie das, was sie für richtig halten. Das ist ein Novum in der jüdischen Geschichte, die zum größten Teil aus Anpassung und Unterwerfung bestand. Israel ist die Fortsetzung des Judentums mit anderen Mitteln. Das ist auch vielen Juden in der Diaspora peinlich, die sich aus ihrem Dhimmi-Dasein nicht befreien mögen und die Tugend der tapferen Wehrlosigkeit vertreten, um ihren moralischen Bonus als Opfer nicht aufgeben zu müssen.

Die Israelis dagegen sind näher dran an der Wirklichkeit. Sie haben die salonlinke Binse "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt" dermaßen verinnerlicht, dass sie es seit sechzig Jahren in einem permanenten Ausnahmezustand aushalten, den sich andere nicht einmal vorstellen können. Wie lange würden die Einwohner von Dinslaken, Kyritz oder Leverkusen einen täglichen Raketenbeschuss hinnehmen und sich damit trösten, dass es sich bei den Geschossen nur um flugtaugliche Bastelarbeiten handelt?

Israel war nie stärker als heute

Dennoch wissen die Israelis, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Nicht nur, weil die Hamas-Raketen immer weiter fliegen, sondern auch, weil die Palästinenser in anderen Zeiträumen denken. Sie haben bis jetzt drei Generationen geopfert und sind bereit, weitere Generationen zu opfern, während die Israelis von "Peace Now!" träumen und immer weniger Bereitschaft zeigen, auch nur eine Urlaubsreise zu opfern.

So sehr es stimmt, dass Israel für Juden ein gefährlicher Ort ist, es ist auch richtig, dass Israel nie stärker war als heute. Die arabischen Staaten haben sich mit der Existenz eines jüdischen Staates abgefunden, die einen mehr (Ägypten, Jordanien), die anderen weniger (Syrien, Libyen); Bahrein hat eine jüdische Abgeordnete zur UN-Botschafterin ernannt, nicht um den drei Dutzend Juden, die in Bahrein leben, zu schmeicheln, sondern um seine politische Unabhängigkeit zu demonstrieren.

Völlig ausgeschlossen ist nichts

Auch von den Palästinensern geht keine große Gefahr aus - so lange sich der Iran ihrer nicht annimmt. Wäre da nicht die atomare Drohung, könnten sich die Israelis konzilianter zeigen. Wie die Dinge liegen, müssen sie freilich annehmen, dass territoriale Kompromisse nichts bringen. Denn für den iranischen Präsidenten und seine örtlichen Delegierten in der Hamas und der Hisbollah gelten nicht nur Hebron und Nablus, Ramallah und Jenin als besetzte Gebiete, sondern auch Haifa, Rishon le Zion und ganz Jerusalem. Wenn die Räumung von Hebron die Situation nicht entspannen, sondern eskalieren würde, wie nach dem israelischen Abzug aus Gaza geschehen, warum sollte sich Israel auf ein solches Experiment einlassen?

Es ist noch keine zwanzig Jahre her, dass Israel alle Verhandlungen mit der PLO offiziell ablehnte. Heute stützt es das Regime von Präsident Mahmud Abbas. Dass es in zwanzig Jahren mit der Hamas kooperieren könnte, gilt derzeit als undenkbar. Aber völlig ausgeschlossen ist nichts.

"Am Israel chai" kann man derzeit überall in Israel an Wänden und Zäunen lesen, "das Volk Israel lebt". Ein anderer Sprayer läuft rum und ergänzt: "B'seret" - "Im Film". Soll heißen: Kein Mensch weiß, ob die Vorstellung mit einem Happy End oder einem Showdown zu Ende gehen wird.

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