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Mon BERLIN: Kaffee ist Leben

Es ist ein Moment der Gnade. Der kleine Morgenkaffee, le petit café du matin, ist ein geheiligtes Ritual.

Es ist ein Moment der Gnade. Wenige schwebende Minuten am Beginn des Vormittags. Eine kontemplative Minipause. Ein Atemholen, bevor man sich widerstandslos vom Sturmwind des Tages davontragen lässt.

Der kleine Morgenkaffee, le petit café du matin, ist ein geheiligtes Ritual. Manche kippen ihren Espresso ristretto, den Ellbogen auf die Theke gestützt, den Körper schon angespannt, damit sie schnell wieder fortkommen. Andere nehmen sich ein paar Minuten und setzen sich. Man hat das warme Bett eben erst verlassen und ist noch nicht bereit, sich vom Stress des beginnenden Tages anketten zu lassen. Die Kinder sind in der Schule, und bis zum ersten Termin ist es noch Zeit.

Also ein wenig Müßiggang, man darf verweilen. Mit Bedacht wird der richtige Tisch gewählt, möglichst immer derselbe, in einer geschützten Terrassenecke, aber von der Sonne gut gesprenkelt. Jeden Morgen derselbe Blick auf die erwachende Stadt. Auf dem Bürgersteig vibriert das Leben. Berlin eilt in seine Büros. Ein Genuss, diese Zwischenzeit. „Einen Espresso bitte!“

Der Kellner stellt Tasse mit Untertasse auf das Tischchen. Vor dem Trinken noch einen Augenblick verharren. Man könnte anfangen, sich in die Akten zu vertiefen, oder sich der täglichen Pflichtübung unterwerfen und den Aufmacher im Feuilleton der „FAZ“ lesen, aber für intellektuelle Verrenkungen ist es zu früh. Allenfalls ein nicht allzu komplizierter und vor allem nicht allzu langer Artikel. Oder einfach das Vergnügen, am selben Tisch wie gestern und morgen zu sitzen. Der kleine Tisch am Bürgersteig ist eine einsame Insel, von der Menge leicht abgesetzt, ein strategischer Ort, von dem aus sich das Theater der Straße beobachten lässt. Man lässt die Gedanken schweifen. Der ganze Körper entspannt sich. Und plötzlich ergreift man den Tassenhenkel und schüttet den „kleinen Schwarzen“ entschlossen hinunter. Zuerst schmeckt man den sanften Schaum, dann den leicht bitteren Kaffee und die letzten Zuckerkristalle auf dem Grund der Tasse. Eine halbe Stunde später wird das anregende Koffein das letzte Gähnen verscheucht haben. Nur nachtaktive Berliner können den morgendlichen Kaffee langsam schlürfen. Sie bestellen sich eine Riesentasse Milchkaffee. Und bleiben oft bis zum Mittag am selben Tisch kleben.

Der kleine Morgenkaffee hat mit dem 11-Uhr-Kaffee nichts zu tun. Diese beiden Rituale haben ganz unterschiedliche Funktionen. Der frühe Kaffee wird einsiedlerisch und schweigend getrunken. Man ist einen Moment für sich, ohne sich zu unterhalten, ohne genaues Ziel, ohne höflich oder tüchtig sein zu müssen. Eine Freiheit, die man sich gönnt, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu bitten. Fast eine anarchische Abschweifung in der strikten Tagesplanung. Beim Kaffee um 11 Uhr ist man gesellig. Man trinkt ihn in Gesellschaft. Er ist im Tarifvertrag festgelegt. Diesen Kaffee trinkt man im Büro. Er ist gefährlicher als der Morgenkaffee. Denn an der Kaffeemaschine im Flur lösen sich die Zungen, werden andere ins Vertrauen gezogen, Abteilungsverschwörungen ausgeheckt. Vorbei ist es mit der Thermoskanne Filterkaffee, den Töpfchen mit Kaffeesahne und den drei trockenen Keksen auf einem Teller. Eines der unbestreitbaren Verdienste der Globalisierung liegt darin, dass Espressomaschinen ihren Einzug in mittelständische deutsche Firmen gehalten haben. Die Flexibilität eines Unternehmens, seine Fähigkeit, sich der Welt zu öffnen, zeigt sich an der Espressomaschine, die in der Teeküche brummt.

Allerdings tritt in den Tempeln der New Economy der grüne Tee in Konkurrenz zum schwarzen Kaffee. Eine englische Freundin teilt ihre Bekannten in drei Kategorien auf: Da sind zum einen die Leute für das Abendessen, die interessantesten und sozial am ergiebigsten, für die man auch mal einen Nachmittag in der Küche zubringt, um eine richtige Mahlzeit zuzubereiten. Dann gibt es die Leute fürs Mittagessen, mit denen man sich im Restaurant trifft, an einem öffentlichen Ort, um über Geschäfte, einen Vertrag zu sprechen. Man schätzt ihre Gesellschaft, möchte ihnen aber keinen Zugang zur Privatsphäre gewähren. Und es gibt die „coffee people“, die zu nichts nutze sind, die Langweiler, die Lästigen, zu denen man nicht offen Nein sagen kann. Man trifft sie um 11 Uhr morgens zu einer schnellen Tasse Kaffee. Eine Verabredung, die zwischen zwei wichtigere Termine gequetscht wird.

Man muss sich nicht in Entschuldigungen ergehen. Man kann nach 20 Minuten aufstehen und gehen, ohne gegen die Anstandsregeln zu verstoßen. Die dergestalt aufgeteilte Menschheit lässt sich leichter verwalten. Der Espresso um 11 Uhr kann einem wirklich aus der Klemme helfen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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