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POSITIONEN: Mythos Zivilcourage

Wie den Gewaltorgien begegnen? Diese Frage treibt unsere Republik um. Viele Antworten sind grundfalsch, weil sie an der Oberfläche bleiben und nicht "radikal" sind. Der Ruf nach mehr Bürgersinn ist eine Kapitulation des Staats. Ein Kommentar von Michael Wolffsohn

„Zivilcourage zeigen!“, rufen Politik, Polizei und Publizstik den Bürgern zu. Das hört sich gut an und wird auch gut von guten Bürgen angenommen, denn „Zivilcourage“ ist etwas Gutes, und wer wollte nicht zu den Guten gehören?

Doch Vorsicht, jener vielstimmige Aufruf ist nicht stimmig, denn Politik, Polizei und Publizistik gefährden damit gerade die zivilcouragierten, mitmenschlich gesinnten, guten Bürger. Besonders Politik und Polizei, also „der Staat“, schiebt auf diese Weise seine elementare Verantwortung ab. Der Staat ist für die Bürger da, nicht die Bürger für den Staat, wenngleich natürlich ohne Bürgereinsatz und Bürgersinn „kein Staat zu machen ist“.

An der Schutzfunktion des Staates gibt es nichts zu rütteln. Seine Grundaufgabe war, ist und bleibt: der Schutz seiner Bürger nach innen und außen. Nur deshalb kam es, historisch betrachtet, überhaupt zur Gründung von Staaten oder staatsähnlichen Gebilden. Wenn der Staat den Bürgerschutz den zu schützenden Bürgern zuschiebt, stellt er seine Grundaufgabe von den Füßen auf den Kopf – und damit die „Wurzel“ seiner selbst, seiner Staatlichkeit, infrage. Diese „radikale“ Sichtweise ist hierzulande verloren gegangen, und sie hat, jenseits des Radikalen, im Alltagsleben fatale (also wörtlich „schicksalhafte“) Folgen.

Die vom selbst abdankenden Staat zur „Zivilcourage“ aufgeforderten Bürger werden fast tödlichen Gefahren ausgesetzt. Zwei Beispiele, das eine aus Berlin, das andere aus München.

Das war der „Lohn“ für seine Zivilcourage: Der gebürtige Ghanaer Kofi A. (51) wollte in Berlin eine Mutter und ihre Tochter vor böllernden Jugendlichen beschützen. Jetzt geht er an Krücken.

Ähnliches passiert auch in Bayerns scheinbar braver Hauptstadt ständig. Doch unverdrossen ermuntert Münchens Polizeipsychologe die Bürger, „Zivilcourage“ zu zeigen. Landauf, landab dominieren diese scheinklugen Empfehlungen.

Wegschauen? Um Himmels willen. Hinschauen? Ja! Aber nicht selbst total falsch zu verstehende und falsch verstandene „Zivilcourage“ zeigen. Jeder Bürger soll „den Staat“ verpflichten, seine Pflicht zu erfüllen: die Bürger zu schützen. Daher: Sofort die Polizei rufen.

Die Polizei kann natürlich nicht überall sein. Das ist die eine Seite. Die andere: Die Polizei ist überfordert und unterfinanziert. Das wiederum ist nicht nur Schuld „der“ Politik, sondern auch und vor allem der Bürger selbst.

Die Mehrheit der deutschen Bürger will nämlich vom Staat Soziales und Sicherheit. Zwar ist jetzt die Staatskasse voller als zuvor, aber nicht voll genug, um diese beiden und andere wichtige Staatsaufgaben zu erfüllen.

Wenn die Bürger, A sagend, zurecht mehr „Sicherheit“ fordern, müssen sie auch B sagen und auf Staatsaufgaben in anderen Bereichen verzichten. Auch die vom Staat angebotene „Speisekarte“ kann keiner aufessen, man muss wählen. Das tun die Bürger in unserer Demokratie. Sie müssen entscheiden, was sie wollen. Alles bekommen sie nicht. Die Angebote der Parteien für die „Speisekarte“ sind, trotz aller Gemeinsamkeiten der Demokraten, klar unterscheidbar. Der gute alte BB, Bertolt Brecht, wusste es genau: Er beklagte nicht den Staat, der keine Helden hat, sondern den, der Helden braucht. Auch deshalb war der im Jahre 2000 in Deutschland staatlich inszenierte „Aufstand der Anständigen“ eine leichtfertige Gefährdung der Staatsbürger.

Der Autor lehrt Neuere

Geschichte an der Bundeswehr-

Universität München. Der Text gibt seine persönliche Meinung wieder.

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