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Kontrapunkt: Die Kinder der Revolution

Sind die Araber reif für die Demokratie? Malte Lehming sucht nach den Revolutionen in Tunesien, Ägypten und nun womöglich Libyen Antworten auf zentrale Fragen für den Westen.

Es war einmal ein Funke der Demokratie. In Tunesien entzündete er sich, erfasste Ägypten, dann Libyen und viele andere Regionen der muslimischen Welt. Überall gingen junge, mutige Freiheitskämpfer auf die Straße, sie riskierten ihr Leben, um jahrzehntelang herrschende Despoten aus dem Amt zu jagen. Ein Regime nach dem anderen stürzte. Universelle Werte – menschliche Würde, Gedankens- und Religionsfreiheit, Emanzipation – breiteten sich aus. Viele westliche Vorurteile über die angebliche Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie wurden im Handumdrehen widerlegt.

So könnte es sein. Oder auch ganz anders. Gabriele Riedle arbeitet beim Magazin „Geo“. Drei Wochen lang war sie als einzige westliche Journalistin in Libyen, am vergangenen Freitag kam sie zurück und gab der „Frankfurter Rundschau“ ein Interview. Auf die Frage „Was wollen die Demonstranten?“ antwortete sie: „Jedenfalls keine Demokratie. Es geht um Machtverteilung, um alte Rechnungen und um Rache. (...) Ich habe keine einzige Person getroffen, die von Demokratie redete.“

Der Terrorexperte Claude Moniquet ist Präsident des renommierten „European Strategic Intelligence and Security Center“ (ESISC) in Brüssel. Er schreibt in seiner Analyse über Libyen: „Wir haben aus mehreren Quellen erfahren, dass bekannte Islamisten die am Wochenende im Osten begonnene Rebellion anführen.“ Angesichts der blutigen Geschichte des Landes sei es sicher, dass in naher Zukunft keine Demokratie an die Stelle des autokratischen Systems treten werde, sondern „noch mehr Chaos, Tränen und Blut“.

Auf dem Tahrir-Platz in Kairo durfte am vergangenen Freitag erstmals nach 30 Jahren wieder der unter Hosni Mubarak verbotene fundamentalistische Geistliche Yusuf al-Qaradawi die Freitagspredigt halten. Seit 1999 hat al-Qaradawi Einreiseverbot in die USA, er befürwortet palästinensische Selbstmordattentate, rechtfertigt das Verprügeln von „ungehorsamen“ Ehefrauen sowie die Todesstrafe bei Unzucht, Homosexualität und dem „Abfall vom Glauben“. Adolf Hitler bezeichnete er einmal als die „gerechte Strafe Allahs für die Juden“. In seine bejubelte Ansprache bezog er ausdrücklich die Palästinenser mit ein und hoffte inständig, auch bald in Jerusalem predigen zu können.

An diesem Dienstag sind zum ersten Mal seit der islamischen Revolution 1979 in Teheran zwei iranische Kriegsschiffe in den Suezkanal eingefahren, der durch Ägypten hindurch das Rote Meer mit dem Mittelmeer verbindet. Angeblich sind die Schiffe auf dem Weg nach Syrien. Israel verurteilt die Passiererlaubnis als „Provokation“.

Solche Momentaufnahmen müssen nicht sofort sämtliche Alarmglocken bimmeln lassen. Aber Europa ist gut beraten, eine Doppelstrategie zu fahren. Die Protestler müssen unterstützt, die von den Despoten befehligte Gewalt scharf verurteilt werden – bis hin zu Sanktionen. Andererseits aber dürfen die Risiken nicht aus dem Blick geraten. Als da sind: schleichende Islamisierung, zunehmende Israelfeindschaft, Abdriften ins Chaos, rapide anwachsende Flüchtlingszahlen, unaufhörlich steigender Ölpreis, das Erstarken radikaler Entitäten wie Iran, Syrien, Hisbollah, Hamas. Diese Gefahren sind real, sie können sogar von historischer Dimension sein. In der Euphorie über die einstürzenden Uraltbauten wäre es fahrlässig, sie zu verdrängen.

Zwei zentrale Fragen jedenfalls lassen sich derzeit nicht abschließend beantworten: Was wollen die Protestler? Gibt es einen Dominoeffekt? Die Motive der Menschen, die im Maghreb auf die Straße gingen, sind offenbar vielfältig. Viele junge, arbeitslose Menschen ohne Zukunftsperspektive treibt der Zorn auf die korrupte Elite. Sie sind überwiegend unideologisch, aber durchaus materiell orientiert. Ob sie ebenso vehement für Demokratie und Freiheitsrechte streiten, ist unklar. Daher weiß auch keiner genau, ob der Funke nach Libyen noch weiter überspringt. Es ist eine offene Situation, jedes Land steht womöglich vor einer ganz eigenen Dynamik. Und die Herausforderungen sind immens groß. Sie zu meistern, liegt vor allem an den Menschen selbst. Kein europäischer Marschallplan kann sie davon entlasten.

Wir sind Zeugen einer Revolution in der arabischen Welt, auf deren Verlauf der Westen wenig Einfluss hat. Umso wichtiger sind klare Prinzipien – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit Israels – und eine reaktionsschnelle Realpolitik. Sonst droht der wahrscheinlich unausweichliche Katzenjammer der Revolutionäre einst auch uns zu plagen.

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