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Kontrapunkt: Politik und Moral - eine prekäre Beziehung

In Frankreich musste die Außenministerin gehen, weil sie dem Despoten Ben Ali Hilfe gegen die Aufständischen angeboten hat, in Deutschland ein Verteidigungsminister, weil er seine Doktorarbeit gefälscht hat. Die Fälle liegen weit auseinander, doch sie haben einen gemeinsamen Kern.

In der Welt der Rücktritte geht es so ungerecht zu wie im wirklichen Leben. Warum das so ist, hat Horst Seehofer in den ersten Tagen der Guttenberg-Plagiatsaffäre direkt in die Fernsehkameras gesagt. Zurücktreten müsse einer nur, wenn seine Partei das will. Die CSU stehe fest hinter Guttenberg, und darum werde er bleiben.

Bekanntlich kam es anders, obwohl sich die CSU in Passau wieder fest hinter KT gestellt hat. Seehofer hat trotzdem eine Wahrheit ausgesprochen. Für gewöhnlich wird sie verhüllt, diese machtpolitische Faustregel für Bleiben oder Gehen in der Politik. Doch die nackte Macht hat in offenen Gesellschaften ernstzunehmende Gegner. Im Fall Guttenberg hat das Bestehen auf ethischen Standards der Wissenschaftswelt die festen Reihen der Union erschüttert. Ausgerechnet die Bundeskanzlerin hat diese Stimmen auf den Plan gerufen, als sie diese Standards beiläufig für irrelevant erklärt hat ("habe keinen wissenschaftlichen Assistenten berufen"). Sie musste sich am Ende selbst widerlegen, wollte sie nicht ernsthafte Probleme in ihrer Partei riskieren. Macht und Moral treffen sich manchmal auf verschlungenen Wegen.

Sie führen in der Demokratie eine stets prekäre Beziehung. Politik ist ein schmutziges Geschäft, wusste der Volksmund in den 1950er und 60er Jahren der Bundesrepublik, als die Bürger aus einem moralisch zugrunde gerichteten Deutschland in die Demokratie aufgebrochen sind. Man ging wählen, um demokratische Läuterung zu beweisen, Politik überließ man denen da oben und arbeitete am privaten Wiederaufstieg. Das Resultat zeigte sich in der nächsten Generation, die mit heftigem Überschuss auf die Weigerung ihrer Eltern geantwortet hat, sich den Fragen der Vergangenheit zu stellen. Der moralische Impuls der "68er" hat das Beste für die deutsche Demokratie hervorgebracht, den langen Marsch durch die Institutionen, die "Aneignung" der Demokratie durch starke Partizipation, außerparlamentarisch, in den Volksparteien, mit hohen Wahlbeteiligungen. Und zugleich das Schlimmste, die RAF, die sich unter Berufung auf höhere Ziele mit mörderischer Gewalt über das Land gelegt hat.

Als Hanns Martin Schleyer entführt wurde, musste Bundeskanzler Helmut Schmidt einen schwierigen moralischen Konflikt meistern. Auf dem Spiel stand das Leben eines Menschen, aber abzuwägen war, dass der demokratische Staat nicht erpressbar sein darf durch eine Mörderbande. Das war nur scheinbar eine Abwägung zwischen einem abstrakten Prinzip und einem konkreten Leben. Der erpressbare Staat hätte Gewalttäter freigelassen, die bereit waren, für ihre Ziele viele andere Leben zu gefährden. Schmidt konnte seine Hände nicht in Unschuld waschen. Er hat eine Entscheidung getroffen, die dem Urteil der Zeitgenossen und der Geschichte standhält, und doch niemals die Billigung der nahen Angehörigen des ermordeten Schleyer finden kann. "Pragmatisch handeln und sittlichen Zwecken", lautet die moralische Devise des Politikers Helmut Schmidt.

Das Verhalten der französischen Ex-Außenministerin wäre in Deutschland so undenkbar wie der Versuch Sarkozys, seinen Sohn an die Spitze einer großen Institution zu setzen oder die britischen Parlamentsskandale. Im Vergleich sind wir, gezwungen durch unsere Geschichte, immer noch Musterdemokraten mit unseren Dienstwagen oder Flugbonusmeilen. Wie banal ist Guttenbergs Fall doch im Vergleich zum Rücktritt Willy Brandts, der im Zeichen der dunklen Mächte des Kalten Krieges stand. Heute scheint alles erlaubt - und zugleich alles so unterschiedslos skandalisierbar, dass der eine Skandal Verantwortung und Augenmaß für den anderen relativieren kann.

Das ist gefährlich für demokratische Gesellschaften. Demokratie, hat der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde gesagt, lebt auch von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann. Die "diabolischen Mächte" der Politik (Max Weber) sind in Demokratien begrenzt durch institutionalisiertes Misstrauen: Macht wird auf Zeit vergeben, die öffentlichen Gewalten sind geteilt, die Menschenrechte garantiert, die Öffentlichkeit wirkt als Dauerkontrolleur. Angewiesen ist die Demokratie aber auch von einer Bereitschaft zu Anstand und Verantwortung ihrer Politiker und Bürger, die kein Grundgesetz verordnen kann. Das richtige Maß für die Moral der Politik kann kein Lehrbuchwissen sein, weil die Zeiten die Anschauungen darüber verändern, was erlaubt und was verboten ist. Konrad Adenauer konnte den Berliner Bürgermeister Willy Brandt "alias Frahm" am Tag nach dem Mauerbau mit seiner unehelichen Herkunft schmähen. Horst Seehofers nichteheliches Kind betrachten wir als private Angelegenheit, die allenfalls die menschliche Klatschsucht anregen sollte.

Einen Kompass für moralische Urteile in der Politik findet man eher in der Frage, was nicht geht, als in Definitionen des Richtigen. Der Zweck heiligt kein Mittel. Moralisierende Politik ist eher verdächtig als glaubwürdig, weil Politiker ebenso wenig perfekte Menschen sein können wie die Demokratie je eine perfekte Gesellschaft sein kann. Ebenso unbestreitbar ist, dass die Demokratie den amoralischen Politiker nicht ertragen kann, der als Machtmensch funktioniert, aber keinen inneren Maßstab in seinen politischen Überzeugungen hat. Pragmatismus und Realpolitik laufen ohne Werte ins Leere oder sogar, wie der arabische Aufstand lehrt in die Irre. Wer die Freiheitsträume von jungen Gesellschaften nicht auf der politischen Rechnung hat, ist moralisch so fragwürdig wie er realpolitisch dumm ist.

Horst Seehofer hat heute in Passau seinen Ruf nach einer Rückkehr Karl-Theodor zu Guttenbergs in dem Satz enden lassen: "Wir lassen uns aus der Partei der Steinewerfer, aus der Partei der Stasi-Kommunisten nicht Anstand und Moral vorhalten." Wenn das die christsoziale Moral von der Geschichte ist, wird Guttenberg nie zurückkehren. Es kommt darauf an, die eigenen und die öffentlichen Maßstäbe zu kennen und vor ihnen zu bestehen. Wenn alle betrügen, dann darf ich es auch? Das ist eine politische Moral, die Demokratien auf Dauer nicht vertragen. Warum? Franklin D. Roosevelt hat es so ausgedrückt: "Demokratie, die Praxis der Selbstregierung, ist ein Vertrag, in dem sich freie Menschen verpflichten, die Rechte und Freiheiten der Mitbürger zu beachten."

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