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Kontrapunkt: Reichtum für alle

Die Ungleichheit auf der Welt nimmt ab. Und das ist nicht die einzige gute Nachricht, pünktlich zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Ein Kontrapunkt.

Kennen Sie den kürzesten antikommunistischen Witz? Hier ist er: „Lenin kriecht mit einem Messer im Rücken blutüberströmt durchs Gebüsch.“ – Pause – Pause – Pause. „Ist doch witzig, oder?“

Erzählt hat mir den Witz ein Freund aus Polen (woher sonst?). Das war im Wendejahr 1989. Eben dieser Freund kam damals auch eines Tages aufgeregt mit einer polnischen Zeitung zu mir und sagte: „Lies das!“ Natürlich konnte ich es mangels Polnischkenntnis nicht lesen. Also übersetzte er die Schlagzeile auf der ersten Seite. „Mafia in Warschau!“ (wahrscheinlich ging es um Rivalitäten zwischen der Pruszkow- und der Wolomin-Bande). Ich reagierte recht sozialdemokratisch, drückte mein Bedauern aus, murmelte etwas von Schattenseiten des Kapitalismus, guckte besorgt bis ernst. Er aber lachte mich an, strahlte übers ganze Gesicht und rief begeistert: „Bist Du verrückt? Endlich! Endlich ist es bei uns wie in Chicago und New York! Keine Lethargie mehr, kein Warten auf Vater Staat.“ Die Mafia als Symptom der Besserung – nur unter Wehen verwandelt sich die sozialistische Planwirtschaft in eine moderne offene Marktwirtschaft. Ohne Wehen keine Wandlung.

Etwa zur selben Zeit lief im DDR-Fernsehen in der Jugendsendung „Elf 99“ die Reportage „Einzug ins Paradies“. Darin wurde der relative Luxus gezeigt, in dem die Mitglieder des Politbüros des ZK der SED in der Waldsiedlung Wandlitz gewohnt hatten. Es gab ein Klubhaus mit Arztpraxis, Schwimmbad, Sauna, Tennisanlage, frisches Obst und frisches Gemüse. Die Reportage hatte eine ungeheuer große Wirkung. Sie löste grenzenlose Empörung aus und ungebremste Wut. Für den Verlauf der friedlichen Revolution war sie wohl mindestens so bedeutsam wie die jahrzehntelangen Entbehrungen von Reise-, Rede-, Presse- und Religionsfreiheit, die Erfahrungen von Stasi-Knast und Gängelung. Ungerechtigkeit! Privilegien! Das brachte das Fass hektoliterweise zum Überlaufen.

Putzen für die Reichsten und Einflussreichsten - vor dem Wirtschaftsgipfel in Davos.
Putzen für die Reichsten und Einflussreichsten - vor dem Wirtschaftsgipfel in Davos.

© dpa

Diese Fixierung auf gesellschaftliche Gerechtigkeit hat sich seit der Einheit gesamtdeutsch verstärkt. Kein Wunder, dass sich die Montagsdemonstrationen an der Hartz-IV-Frage neu entzündeten. Seitdem befassen wir uns abwechselnd, aber regelmäßig mit Themen wie Prekariat, Arm-Reich-Schere, Managerboni. Da lohnt ein Blick über den Tellerrand. Das britische Magazin „Economist“ berichtet in seiner jüngsten Ausgabe, dass erstens die Kluft zwischen Arm und Reich im internationalen Maßstab kleiner statt größer wurde und dass zweitens Ungleichheit nicht die zentrale Ursache für soziale Probleme ist (die Mordrate in den USA etwa hat vor allem mit den liberalen Waffengesetzen zu tun, während der Hauptgrund für die lange Lebensdauer der Japaner ihre gesunde Ernährung ist).

Die einkommensbezogene Ungleichheit auf der Welt nimmt eher ab als zu: Das ist doch mal eine gute Nachricht. Der Maßstab, an dem das gemessen wird, ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Er liegt zwischen dem theoretischen Wert Null (alle Bewohner eines Landes verfügen über dasselbe Einkommen) und dem Wert hundert (eine einzige Person verfügt über das gesamte Einkommen eines Staates). In den USA und einigen anderen westlichen Ländern ist die Gini-Koeffizient zwar zum Teil drastisch gestiegen, aber weil bevölkerungsreiche Staaten, die einst sehr arm waren – China, Indien – ein anhaltend hohes Wirtschaftswachstum haben und dadurch den Abstand zu den reichen Industrienationen verringern konnten, herrscht global gesehen der Trend zu immer größerer Gleichheit.

Andere globale Trends machen ebenfalls Mut. Die Zahl der Analphabeten sinkt, ebenso die Kindersterblichkeitsrate, die Lebenserwartung steigt, die Ernährungs- und Gesundheitssituation verbessert sich. Auch die Zahl der armen Menschen sinkt (als Armutsschwelle gilt ein US-Dollar pro Tag als Kaufkraft, umgerechnet auf die heimische Währung), sowohl in absoluter als in relativer Zahl (Anteil an der Gesamtbevölkerung). Sorgen machen muss man sich freilich um Afrika, das dem allgemein positiven Trend nicht folgt, und um Südasien.

Und zu bester Letzt muss bedacht werden, dass Ungleichheit nicht an sich schon schlecht ist. Zu große Gleichheit kann zu gesellschaftlicher Trägheit führen (warum soll ein Mensch sich anstrengen, wenn egal ist, ob, was und wie viel er arbeitet?). Länder wie Albanien, Weißrussland, Bulgarien, Tadschikistan oder die Ukraine haben einen ähnlich niedrigen Gini-Koeffizienten wie Deutschland – aber macht sie das lebenswerter als die USA?

Nein, globaler Alarmismus ist fehl am Platz, wenn in diesen Tagen das Weltwirtschaftsforum in Davos beginnt. Es ist längst noch nicht alles gut, aber die Richtung stimmt. Und: Ohne Wehen keine Wandlung.

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