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Sehen so Wutbürger aus?

© Reuters

Kontrapunkt: Wutbürger und Nichtwähler

Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat den Wutbürger untersucht. "Alt, stur, egoistisch" seien die Aktivisten, besser gebildet und einflussreich. Demokratie wird zu einer Sache, die die gut Situierten unter sich ausmachen.

Zeitweise konnte man im Jahr 2010 vor lauter Wutbürgern den Rest der Republik nicht mehr sehen. Mit etwas Verspätung, denn das „Wutbürgertum“ ist schon wieder aus der medialen Mode gekommen, hat das Göttinger Institut für Demokratieforschung den Wutbürger erforscht.

Der reale Schauplatz seines Aufstiegs war Stuttgart. Der Protest gegen S21 wurde aus vielen Quellen gespeist, die aus Bürgerbewegungen eine öffentliche Machtmachen können: Strittig war das Großprojekt selbst, Nahrung erhielt der Protest durch die „Arroganz der Macht“ einer seit Jahrzehnten von der CDU geführten Landesregierung, aufgeladen wurde er durcheinen Polizeieinsatz, der ganz aus dem Geist dieser Arroganz kam. Bald schien der Stuttgarter Wutbürger umzugehen im ganzen Land, gegen Bauprojekte aller Art, unter anderem auch in Berlin, wo die neuen Flugrouten die Bürger in Wallung brachten.

Mit dem üblichen Überschuss an Häme ("Alt, stur, egoistisch“) kommt der Göttinger Soziologe Franz Walter zu dem Schluss, dass der Wutbürger durchaus seinen Eigennutz im Auge hat, Grundstücke und Eigenheime zum Beispiel, die durch Windräder oder Großbaustellen entwertet werden könnten. Der wutbürgerliche Aktivist ist gut situiert, besser gebildet, 70 Prozent sind älter als als 45 Jahre und mit der eigenen Situation zufrieden, schätzt die demokratischen Werte, ist aber mit deren Praktizierung höchst unzufrieden. Volksbegehren und andere Instrumente der direkten Demokratie stehen hoch im Kurs.

Das ist alles wenig überraschend, denn Augenschein, Fernsehberichte und Zeitungsreportagen lieferten längst das gleiche Bild. Gut situierte, akademisch gebildete und Ältere haben höhere Partizipationsmöglichkeiten und nehmen sie auch wahr. Das ist legitim, manchmal produktiv, manchmal der nackte Kampf um Partikularinteressen, die Bürger mit Zeit und Einfluss besser durchsetzen können als die ohne Zeit, Geld und öffentliche Artikulationsfähigkeit (z.B. bei den in Göttingen nicht untersuchten Schulabstimmungen).

Der Wutbürger ist motiviert für seine jeweilige Sache, denn er hat allen Grund anzunehmen, dass sein Protest beachtet werden muss – ganz anders als die Abwendung der schlechter Gebildeten und sozial prekären Lagen, die von keiner Partei und Institution mehr etwas erwarten. Dieses Phänomen hat sich in allen westlichen Demokratien festgesetzt – und in einigen sieht man mittlerweile, wie es sich entladen kann. In Deutschland entwickelt es als Nichtwählertum eine große Hartnäckigkeit, die nur scheinbar folgenlos für die Demokratie ist.

Stuttgart 21, ein regionaler Konflikt, war eine Herausforderung für die Bundeskanzlerin. Viel Wut war dazu gar nicht nötig. Denn anders als im Fall der Volkspartei SPD, der die so genannten „kleinen Leute“ in Scharen weg (und nicht zur Linken) gelaufen sind, steht für den Schwund der Volkspartei CDU eine neue bürgerliche Kraft aufnahmebereit zur Verfügung. Die Grünen genießen unter den Wutbürgern allerhöchste Sympathiewerte.

In Stuttgart ist gerade der Übergang des wutbürgerlichen Protests in die Niederung der Realpolitik zu beobachten. Der schwarze Mappus ist weg, doch wie kann das Volk angesichts der Lage in der grün-roten Koalition (die SPD ist ja für den neuen Bahnhof) und angesichts der Rechtslage wirklich entscheiden? Seit der grüne Landesvater regiert, ist der Blick dafür frei gelegt, dass es bei S21 um Interessen und nicht um höhere Moral geht.

Das Göttinger Institut könnte mit seinen Mitteln vielleicht einmal die Frage beantworten, ob es ein„Wutbürgertum“ überhaupt gibt. Oder ob der Begriff nur deshalb seine kurze Karriere in den Medien machen konnte, weil wir die Augen davor verschließen wollen, wie sehr sich die demokratische Partizipation bereits verengt hat. Und die Demokratie zu einer Sache wird, die zusehends die gut Situierten, die besser Gebildeten, die Reichen und die Einflussreichen mehr oder weniger unter sich ausmachen.

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