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Meinung: Koran oder Grundgesetz

Der Islam ist längst zur Geisel von Fanatikern geworden. Das macht es umso dringlicher, Muslime aktiv zu integrieren

Wer in diesen Tagen nach Holland schaut, stellt sich die bange Frage, wann ist es bei uns so weit? Passieren kann es überall und zu jeder Zeit. Niemand, auch nicht das ausgeklügeltste Sicherheitssystem, kann für absolute Sicherheit sorgen. Und irgendein durchgedrehter, ideologisch verblendeter, emotional aufgeladener Mörder richtet sich nicht nach Ländergrenzen. Globalisiert in unserer Welt sind nicht nur Musikvideos, Getränkemarken und Nahrungsmittel, auch der Terror spannt seine Netze weltweit. Und wir sind darauf nicht vorbereitet.

Wir sind nicht mehr daran gewöhnt, in Angst zu leben. Wir in Westeuropa hatten es gut, in den letzten Jahrzehnten. Wir lebten in einem Rechtsstaat mit garantierten bürgerlichen Freiheiten. Dass jemand wegen seiner Meinung auf offener Straße hingerichtet wird, war undenkbar. Und so haben wir unser Rechtssystem nach und nach gelockert. In Holland erwartet den Mörder von Theo van Gogh so viel, wie der Mörder von Pim Fortuyn bekommen hat, achtzehn Jahre, von denen er wahrscheinlich nur Zweidrittel absitzen wird. Ein Irrsinn.

Zwölf Jahre Haft für vorsätzlichen Mord, da stellt sich schon die Frage, ob Menschenleben bei uns inzwischen nicht viel zu billig zu haben sind. Mitgefühl für Täter ist zum Bestandteil einer falschen, naiven Liberalität avanciert. Hat das Opfer keinen Anspruch auf eine gerechte, angemessene Bestrafung des Täters? Sicherlich, den Mörder Theo van Goghs hätte selbst die Todesstrafe nicht abgeschreckt. Er wäre womöglich im Glauben in den Tod gegangen, für seine schreckliche Tat ins Paradies zu kommen. Der Islam mit seiner schlichten Lohn- und Strafökonomie liefert den Mördern ein Rüstzeug an die Hand, das gefährlicher ist als jede Waffe. Wer im Kampf mit einem Ungläubigen fällt, kommt ins Paradies, wo ihn ungezügelte Sinnenfreuden erwarten. Ein Relikt aus Zeiten, als der Prophet Mohammed seinen Glauben gegen die herrschende Schicht seiner Heimatstadt Mekka durchsetzen musste, mit dem Schwert in der Hand.

Und heute? Was als Angriff auf den Islam gewertet wird, bleibt Interpretationssache. Dünnhäutig geworden sind sie, die Muslime, vor allem die jungen Männer unter ihnen, haben sie doch in modernen Gesellschaften viel an Machtverlust zu beklagen. Schuld an der eigenen Misere sind immer die anderen. Die Kolonialisten, die Amerikaner, die Juden, der Westen schlechthin.

Vierzehn Jahrhunderte nach dem Propheten stürzen sich junge Palästinenser in Scharen in den Tod und reißen Unbeteiligte mit, Frauen und Kinder. Auch ihnen hat man versprochen, ins Paradies zu kommen. Ein feines Paradies wird das, bevölkert mit Mördern und Selbstmördern. Es ist unverzeihlich, dass die Geistlichen aus muslimischen Ländern bisher kein Machtwort gesprochen haben, das die Fahrkarte ins Paradies eindeutig als Fälschung entlarvt und den jungen Männern und Frauen, die sich da opfern, sagt, was sie sind: Mörder und Selbstmörder. Sie haben zwei Untaten zugleich begangen, die in der islamischen Rechtsprechung zu den schlimmsten Sünden zählen.

Längst ist der Islam eine Geisel in den Händen von Fanatikern geworden, kein Glaube mehr, der den Verstand erreicht, eine dunkle Regung des Herzens, das immer größere und schrecklichere Verbrechen gebiert. Wie aber war das möglich? Was kann man dagegen tun?

Wer die europäische Geschichte kennt, dürfte eigentlich nicht überrascht sein, dass im Namen einer Religion so viel Blut vergossen wird. Das Europa von heute ist auch das Ergebnis eines langen, blutigen Lernprozesses. Glaubenskriege sind kein Fremdwort in der europäischen Geschichte. Dass dieser Begriff für uns heute so fremd klingt, ist das Verdienst von Aufklärung und kritischer Religionsbetrachtung, vor allem aber der Demokratisierung und Zivilisierung unseres Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg.

Um so wacher müssten wir heute sein. Oft hat es den Anschein, dass die viel beschworenen Werte der offenen Gesellschaft, des Pluralismus und der Demokratie zu selbstverständlich geworden sind; als ginge es nicht immer wieder darum, sie gegen die Feinde der offenen Gesellschaft zu verteidigen.

Erinnern wir uns noch an die Zeit nach den Brandanschlägen auf Asylbewerberheime und auf türkische Bürger in Mölln und Solingen? Wie schnell haben wir vergessen, dass wir schon einmal fast holländische Verhältnisse hatten! Damals waren die Täter Deutsche und kamen aus dem rechtsradikalen Spektrum. Und es war nicht die Polizei allein, die unser Land vor einem größeren Chaos bewahrt hat, sondern die Besonnenheit und das energische Eintreten der Bevölkerung. Die Zivilgesellschaft hat sich gegen ihre Feinde zur Wehr gesetzt, öffentlich und offensiv.

Die Moscheen in Deutschland hatten an diesen Tagen übrigens einen sehr mäßigenden Einfluss auf aufgebrachte, frustrierte Jugendliche. Sie haben eine Eskalation der prekären Lage verhindert. Wie sähe das heute aus? Der Boden, auf dem wir uns bewegen, ist leider dünner geworden. Keine Frage, die überwiegende Mehrheit der muslimischen Bürger ist friedlich und besonnen. Doch dieser oft zitierte Satz wird nicht glaubwürdiger, je öfter er wiederholt wird. Denn er sagt nichts aus über unsere bedrohliche Lage. Die friedlichen Bürger sind leider in einem Dämmerzustand, weit davon entfernt, die Gefahr zu erkennen, die unsere Gesellschaftsordnung bedroht.

Nehmen wir einmal die Türken unter die Lupe. Nicht wenige sind zu Recht genervt, wenn sie auf den Islam angesprochen werden. Denn sie fühlen sich nicht dazugehörig. Fast ein Drittel der Türken sind Aleviten, eine freisinnige Glaubensrichtung, die nichts, aber auch gar nichts mit dem fanatisierten Islam aus der arabischen Welt zu tun hat. Weitere 20 Prozent würden sich wahrscheinlich nicht einmal als Gläubige bezeichnen. Was aber tut die andere Hälfte?

Die allermeisten pflegen einen traditionellen Islam, der sich auf die religiösen Pflichten wie Beten und Fasten beschränkt. Sie machen sich keinerlei Gedanken über Integration. Ihre soziale Anstrengung erschöpft sich darin, ihre Kinder vom – aus ihrer Sicht – schädlichen Einfluss der Umwelt abzuschotten. Zu diesem schädlichen Einfluss zählen nicht nur kriminelle Delikte und Drogenkonsum, sondern auch freizügige Sexualität. Vor allem die Mädchen werden abgeschirmt und von klein auf komplexbeladen erzogen. Sie sollen ja tüchtige und brave Mütter werden.

Manch ein konservativer Deutscher beneidet wahrscheinlich innerlich diese wertbewussten türkischen Familien. Doch mit den Erziehungsidealen einer freien Gesellschaft haben muslimische Familienverhältnisse wenig zu tun. Unterm Strich kommt immer eine Benachteiligung der Frau heraus. Männlichkeitsrituale gehören zur identitätsstiftenden Ausrüstung. Zwangsheirat und psychologischer Druck auf Mädchen sind die selbstverständlichen Folgen dieses Traditionsbewusstseins. Wer dagegen ankämpft, wird zum Außenseiter, wird angefeindet.

Vier Jahrzehnte nach dem Beginn der Migration muss die türkische Gemeinschaft in Deutschland begreifen, dass sie sich mit dieser Konservierung ihrer althergebrachten Traditionen ins Abseits bewegen wird. Das wäre übrigens in türkischen Großstädten nicht anders. Die Muslime sind in einem wirklichen Dilemma: Was sollen sie von einer Gesellschaft halten, die die Ehe für Homosexuelle diskutiert? Homophobie gehört doch zum guten Ton. Hat der Islam die Homosexualität nicht unter Strafe gestellt? Steht das nicht so im Koran?

Die Gegenfrage, die man hier stellen muss, ist ziemlich einfach. Was zählt mehr, Koran oder Grundgesetz? Man könnte auch fragen, was zählt mehr, Bibel oder Grundgesetz? Talmud oder Grundgesetz?

In der Türkei ist diese Frage scheinbar eindeutig beantwortet worden, schon vor 80 Jahren, als die türkische Republik gegründet wurde. Der Koran wurde aus dem öffentlichen Leben verbannt, der Laizismus, die strikte Trennung von Staat und Religion, zur Staatsräson erhoben. Der Koran aber hat sich anders als die Bibel oder der Talmud nicht zu einer zeitgemäßen, sinnstiftenden Richtschnur entwickeln können, der für geistige Nahrung und moralisches Verhalten sorgt, ohne die Rechte anderer zu verletzen, ohne in Konflikt zu geraten mit den Maximen einer freien, demokratischen Gesellschaft. Das heilige Buch der Muslime wird als das unmittelbare Wort Gottes angesehen. Bis in unsere Tage hinein ist eine durch Muslime vorgenommene historisch-kritische Betrachtung dieses sakralen Textes ausgeblieben. Aber auch die Art und Weise der Modernisierung von oben, die die Tradition nicht kritisch, philosophisch diskutierte, sondern einfach ablegte, förderte nicht unbedingt eine Modernisierung des Glaubens. Der Islam wurde nicht reformiert, sondern schlichtweg verdrängt. Die Menschen fühlten sich auf einmal verlassen, ohne Richtschnur in ihrem Leben. Umso mehr klammerten sich manche an die alten, abgeschafften Normen. So entstand eine janusköpfige, schizophrene türkische Gesellschaft. Im Herzen der Koran, auf den Lippen die revolutionäre, säkulare Ideologie des Kemalismus.

In Deutschland aber ist nun alles viel einfacher. Der Mantel des Kemalismus fällt weg – und, siehe da, da kommt er wieder zum Vorschein, der Kaftan, der Umhang des Frommen. Die meisten Türken in Deutschland lieben dieses Land. Sie sind wirklich gerne hier. Viele lassen sich inzwischen einbürgern. Sie möchten aber auch Türken bleiben. Und einige von ihnen auch den Maximen ihres Glaubens treu sein. Es ist eine Aufgabe der Gesellschaft, ihrer Kulturinstitutionen und Medien, mit ihnen unverblümt über die Widersprüche zu diskutieren, die daraus erwachsen.

Wenn wir Verhältnisse wie in Holland vermeiden wollen – damit meine ich nicht den perfiden Anschlag auf Theo van Gogh, sondern die darauffolgende bürgerkriegsähnliche Polarisierung – dann müssen wir wirklich offen und ehrlich miteinander umgehen. Die einheimische Gesellschaft müsste deutlicher zum Ausdruck bringen, dass die Türken hier erwünscht sind, dass sie dazugehören. Wer ständig vorformulierte Forderungskataloge in Richtung der Migranten von sich gibt, immer mit einem Unterton, der in etwa wie folgt lautet: Das ist nicht euer Land, ihr müsst euch hier nach uns richten, wird kaum auf Gehör stoßen.

Der kulturellen Spaltung einer Gesellschaft geht immer eine emotionale Entfremdung voraus. Und eine solche Entfremdung haben wir bereits. Wenn ein Viertel aller türkischen Jugendlichen in Deutschland die Schule abbricht, kann man aber auch nicht eine Gegenrechnung aufmachen, die die Zahl der Hochschüler dagegen hält. Es gibt, das lässt sich nicht leugnen, eine Bildungskatastrophe in Deutschland.

In den nächsten Jahrzehnten werden wir es mit Tausenden beruflich unqualifizierten jungen Menschen auf unseren Straßen zu tun haben, die sozial chancenlos sind. Hier tickt eine soziale Bombe, die auch und gerade von den Eltern der betroffenen Kinder viel zu sehr unterschätzt wird. Wer diese Missstände aber offen formuliert, bekommt ganz schnell seine Probleme mit der Gutmenschenmafia, die über Parteigrenzen hinweg bestens funktioniert.

Natürlich hat die Verbesserung von Bildungschancen auch etwas mit Geldtöpfen zu tun, mit Geldtöpfen, die leer sind. Aber Kinder, die kein Deutsch sprechen, die keine Ausbildung haben, werden uns am Ende viel teurer zu stehen kommen als Investitionen in unser Bildungssystem, verbunden mit einem stärkeren, vereinnahmenden, nicht abweisenden Druck auf die Migranten. Das Scheitern von Zuwandererkindern in deutschen Schulen ist symptomatisch, nicht nur für die ungenügend wahrgenommene Elternpflicht, sondern auch dafür, dass einer der wichtigsten Integrationsfaktoren ausfällt.

Gerade die Schule müsste der Ort sein, an dem sich die Gesellschaft der multikulturellen Herausforderung stellt. Die Schule ist die Keimzelle der Zivilgesellschaft. In ihr entscheidet sich nicht nur die zukünftige Berufslaufbahn, sondern auch die politische, soziale und ideologische Orientierung. Demokratie lebt von aktiven Teilnehmern und droht zu scheitern, wenn zu viele abseits stehen. Abseits Stehende sind aber leichte Beute von Hasspredigern und radikalen Demagogen. Die türkischen Institutionen in Deutschland machen übrigens seit Jahren auf diese Bildungsmisere aufmerksam. Sie haben auch einige Möglichkeiten, die Einwanderer zu erreichen. Aber werden sie ausreichend gefördert?

Integration ist keine Einbahnstraße. Sie erfordert integrationswillige, aber auch aufnahmebereite Menschen. Nur so gelingt der Aufbau und die Stärkung einer Zivilgesellschaft, damit uns erspart bleibt, was in Holland passiert.

Zafer Senocak

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