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Marcel Reich-Ranicki verstand und verband Unterhaltung und Intellektualität. Eine seltene Gabe.

© AFP

Kultur und Kritik: Ranickis Reich der gedruckten Worte

Marcel Reich-Ranicki kennen viele nur aus dem Fernsehen vom „Literarischen Quartett“. Seine Schule als brillanter Kritiker befand sich anderswo. Er war ein Mann des gedruckten Wortes. Auch wenn sein Tod über Twitter verkündet wurde.

Die Nachricht kam über Twitter. Der große Kritiker ist tot. Das will im ersten Moment nicht zusammenpassen: die lapidare digitale Mitteilungsform und die Bedeutung des Gestorbenen, der ein homme de lettres war, ein Meister des Wortes, ein Verteidiger mächtiger Romane, ein Büchermensch, ein Zeitungsmann. Seitenweise druckte seine „Frankfurter Zeitung“ am andern Tag Auszüge aus seinen Rezensionen. Sie waren scharf, verletzend, gewitzt und unterhaltsam, sie gründeten auf tiefer Leidenschaft und profunder Bildung.

Marcel Reich-Ranicki haben viele Zeitgenossen erst als Fernsehstar kennengelernt. „Das Literarische Quartett“, es lief von 1988 bis 2001 im ZDF, war eine Institution, vergleichbar dem „Tatort“ und der „Sportschau“. Da gab er den Zuchtmeister, den Schnellrichter, er spielte Theater: in der Rolle des verreißenden oder des hingerissenen Lesers. Der Literatur, aber auch der Kritik und vor allem sich selbst verschaffte er damit einen unverhofften Popularitätsschub. Ein Entertainer von Graden. Im Fernsehen blühte sein Naturtalent, glühte sein vulkanisches Temperament, als sei „MRR“ der Name eines eigens für ihn, den deutschen Literaturpapst, geschaffenen Senders und Mediums. Er verstand und verband Unterhaltung und Intellektualität. Eine seltene Gabe. Denn er hielt sich nicht an die Regeln der TV-Korrektheit und Bildschirmlangeweile. Er kam nicht vom, er kam zum Fernsehen und war durch den Apparat nicht konditioniert. Seine Schule der Brillanz, des qualitativen und qualifizierten subjektiven Beurteilens – was wäre Kritik sonst? – befand sich anderswo.

Jetzt, nach seinem Tod, bei der Lektüre der Nachrufe, wird man sich einer einfachen, oft vergessenen Tatsache bewusst, eigentlich einer Selbstverständlichkeit, die es in diesen digitalen Welten festzuhalten gilt: Marcel Reich-Ranicki war ein Mann des gedruckten Wortes. Seine herausragende Stellung bis hin zum Prominenten, der sich leisten konnte, den Deutschen Fernsehpreis abzulehnen, verdankte sich in erster Linie dem Schreiben und Publizieren in der Zeitung. Wozu ein immenser Lesefleiß gehört, eine Lust, mit fremden Texten umzugehen, sie zu redigieren, wie eigene Texte zu behandeln und umgekehrt: die eigenen Texte dem Urteil von Kollegen anzuvertrauen, ehe sie gedruckt werden.

Marcel Reich-Ranicki überlebte den Holocaust. Er war eine historische Gestalt, er hat versöhnt. Angesichts seiner jüdischen, deutschen, polnischen Biografie soll es nicht flach klingen, aber er kam aus einer anderen Zeit. In der Bücher verbrannt wurden von Barbaren, in der das Buch aber auch Leitmedium war. Joachim Kaiser, auch ein Großkritiker dieser Generation, pflegt sich selbst als den letzten Mohikaner zu bezeichnen. Will sagen: Nach uns wird es keine herausragenden Kritikerpersönlichkeiten mehr geben. Die Zeitungen spüren die Veränderungen des medialen Universums, lokal-global, ebenso wie der einzelne Journalist und Kritiker. Der Berufswunsch „Kritikerpapst“ entspricht nicht mehr ganz der Realität. Und anders als in Rom wird kein neuer Kritikerpapst gewählt, wenn der Kritikerpapst gestorben ist.

So einer kommt nicht wieder. Der Schwarm will das kritische Geschäft betreiben, in den Foren, in den sozialen Netzwerken. Nur der Reich-Ranicki-Ton, diese Erregung, der rant, der überlebt dort. Nicht aber die Autorität, die Aura, das Ereignishafte – dass jemand mit seiner Existenz dem Wort Gewicht verleiht. Kritik ist nicht Attitüde, sie verlangt den ganzen Kerl.

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