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Kolumnist Robert Leicht

© Zeichnung: Tsp

LEICHTS Sinn: Die Richter haben keine Wahl Überhangmandate verstoßen nicht gegen das Recht

Wieder leben wir in Zeiten, in denen die Politik nach Karlsruhe ausgewandert zu sein scheint. Da kann man leicht die Übersicht darüber verlieren, an wie vielen Stellschrauben der Politik die Richter gerade drehen.

Wieder leben wir in Zeiten, in denen die Politik nach Karlsruhe ausgewandert zu sein scheint. Da kann man leicht die Übersicht darüber verlieren, an wie vielen Stellschrauben der Politik die Richter gerade drehen. Im Moment zum Beispiel auch am Bundestagswahlrecht.

Die Oppositionsparteien nahmen mit ihrer jüngsten Klage gegen das seit den frühen Tagen der Republik akzeptierte Wahlrecht Anstoß daran, dass die Union als die immer noch am stärksten verwurzelte Partei mitunter mehr Direktmandate einheimsen kann als die anderen und dass dadurch „Überhangmandate“ entstehen. (Manchmal bekommt aber auch die SPD solche Überhangmandate, aber eben weniger.) Ist doch ungerecht, oder?

Gemach! Schauen wir unser Bundestagswahlrecht nochmals an: Die Hälfte der Mandate wird in Direktwahlkreisen erkämpft; sie gehen an den Kandidaten jener Partei, der mehr Stimmen als jeder der anderen Bewerber erringt. Nehmen wir an, fünf Bewerber kandidierten, vier davon erreichten jeweils 19,5 Prozent der Stimmen – dann bekommt der fünfte Mann, der 22 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte, das ganze Mandat, obwohl er nicht einmal ein Viertel der Wähler hinter sich brachte.

Nun geht es an die Verteilung der zweiten Hälfte der Bundestagssitze. Dazu stellt man zunächst anhand der Zweitstimmen fest, wie das Kräfteverhältnis rein nach den Proportionen zwischen den Parteien auszusehen hätte und anschließend werden den Parteien von ihren Wahllisten so viele Mandate zusätzlich zu den errungenen Direktmandaten zugeteilt, dass die Proportionen „stimmen“: Eine Partei die, wie die FDP, keine Direktmandate hat, bekommt nur Listenmandate, die anderen weniger. Was aber, wenn eine Partei bereits mehr Direktmandate errungen hat, als ihr allein nach dem Kräfteverhältnis aufgrund der Zweitstimmen zustünden? Dann bleiben ihr diese „überzähligen“ Mandate als Überhangmandate erhalten.

Ist das nicht ungerecht? Müssen dann nicht mit Ausgleichsmandaten zugunsten der anderen Parteien die Proportionen „wiederhergestellt“ werden – auch wenn dadurch der Bundestag aufgebläht würde? Im Grunde geht es um eine simple Frage: Soll in diesem Fall das Nebeneinander von Direkt- und Listenmandaten, sollen die Reibungen zwischen dem Persönlichkeitswahlrecht und dem Proportionalwahlrecht nach dem Prinzip der Persönlichkeitswahl oder nach dem Prinzip der Verhältniswahl reguliert werden? Der Gesetzgeber hat seit jeher dem Persönlichkeitsprinzip Priorität eingeräumt. Gibt es nun auf einmal einen grundgesetzlichen Zwang, dem Verhältnisprinzip den Vorrang zu geben?

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht bisher zu Recht Anstoß daran genommen, dass wegen fast unerklärlicher Kompliziertheiten eine Partei in bestimmten Fällen ein Listenmandat verliert, wenn sie auf einmal mehr Zweitstimmen bekommt – das ist wirklich absurd. Aber weiter kann das Gericht nicht gehen.

Denn der Gesetzgeber könnte mit einfacher Mehrheit beschließen, wie zwischen 1966 und 1969 (zusammen mit der SPD!) schon einmal ergebnislos versucht, das Mehrheitswahlrecht einzuführen, wonach nur Direktmandate in den Wahlkreisen vergeben werden (wie in Großbritannien, wie in Frankreich), und zwar ohne dass das Grundgesetz dem entgegenstünde. Eine solche Regelung würde die Kräfteverhältnisse im Parlament zugunsten der relativ stärksten Parteien noch viel stärker verschieben als die paar Überhangmandate gegenwärtig.

Wenn aber schon eine solche Regelung verfassungskonform wäre, um wie viel mehr hat das Gericht eine Entscheidung des Gesetzgebers, die ungemein näher an der Proportionalverteilung liegt, erst recht zu akzeptieren? Oder will man etwa sagen, dass wichtige unserer europäischen Nachbarländer undemokratisch wählen?

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