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Lenas Triumph: Das Oslo-Gefühl

Weit über hundert Millionen Europäer haben den Eurovision Song Contest im Fernsehen verfolgt und mitbestimmt. Ob ihre so klare Entscheidung für Lena Meyer-Landrut auch eine Antwort auf die ökonomische Krise gibt? Das Votum für Lena ist vor allem eines für Nachbarschaft, für Nähe. Schön, wenn dieses Oslo-Gefühl für die nächsten zwei, drei Gipfel reichen könnte.

In Augenblicken eines immer noch irgendwie unfassbaren Triumphs tut man gut, sich an die Anfänge zu erinnern. Und die sind gerade drei Monate her. Da fand Marius Müller-Westernhagen, Mitjuror der „Unser Star für Oslo“- Castingshow, nach Lenas schwereloser Darbietung eines weithin unbekannten Songs zu der Formel: „Die Leute werden dich lieben!“ Aber ob er damals geahnt hat, dass nicht nur Nachbarländer wie die Schweiz oder Dänemark, sondern ganz Europa, von Spanien bis Albanien, von der Slowakei bis Finnland, wunderbar ausflippen würde – nur wegen einer 19-jährigen Hannoveraner Abiturientin, die mal eben „Satellite“ auf die kontinentale Gefühlslandkarte tupft?

An seine eigene Liebeserklärung hat der Pop-Prophet Westernhagen damals allerdings auch ein mahnendes Wort geknüpft. „Bleib, wie du bist!“, hat er der vor Aufregung glühenden Kandidatin mitgegeben – und das ist wohl der eigentliche Schlüssel zu dem grandiosen Erfolg vom Samstagabend in Oslo. Denn die Europäer haben nicht in erster Linie für die tollste Stimme votiert. Oder für den tollsten Song. Sondern für eine Ausstrahlung, die mitten ins Herz trifft. Massenhaft haben sie für eine Art kollektive Idealtochter gestimmt, deren Frische vor allem – von der Verlegenheit bis zum ungestümen Jubel – überzeugt. Oder zumindest für das Mädchen von nebenan, dem man neidlos Glück wünscht für sein großes Lebensabenteuer.

Dieses eindeutige Votum für das Ungelenke, Spontane, herzerwärmend Unfertige: Es wirkt umso erstaunlicher, als es sich mitten in einem extrem industriellen Kontext vollzieht. Da ist die clevere Starverfertigungsmaschinerie des StefanRaab-Universums, das diese eigentlichen Sekundärqualitäten seiner Aspirantin geschmeidig in das eigene Marketingkonzept integriert. Da ist das Internet als immer mächtigeres, grenzüberschreitendes Werbemittel. Und da ist schließlich die perfekte Inszenierung von Oslo, die es mit jeder Oscar-Zeremonie locker aufnehmen kann.

Gerade vor diesem Hintergrund aber hebt sich eine Sängerin besonders deutlich ab, die ohne choreografischen Firlefanz, ohne Feuerwalzen, instrumentale Doppel- oder auch nur angeklebte Schmetterlingsflügel, auch ganz ohne Form- und Farborgien bei der Kostümwahl einfach auf einer Bühne steht und – singt. Ein ermutigendes Zeichen, dass die Fernsehkulturkonsumenten dieses Kontinents, in dem Schlager und Pop längst anglisiert und globalisiert verschmolzen sind, dieses substanziell Andere sofort von allem anderen zu unterscheiden wissen. Und es so eindeutig anerkennen.

Weit über hundert Millionen Europäer, davon fünfzehn Millionen Deutsche, haben das Ereignis im Fernsehen verfolgt und mitbestimmt. Ob ihre so klare Entscheidung auch eine Antwort auf die ökonomische Krise gibt, die den Kontinent derzeit in einen kleinstaaterischen Partikularinteressenklüngel zurückzuverwandeln droht und politisch an den Abgrund treibt? Die derart hochgejazzte Siegerin wäre wohl die erste, die eine solche Deutung mit einem lustigen Kiekser zerplatzen lassen würde.

Dennoch: Das massive Votum für Lena ist vor allem eines für Nachbarschaft, ja, Verwandtschaft im weiteren Sinne. Also: für Nähe. Und, am wichtigsten, für jenen jugendlichen Optimismus, der sich nun im kontinentweiten kollektiven Unbewussten mit Lena aus Europas Mitte verbindet. Dieses Oslo-Gefühl: Schön, wenn es für die nächsten zwei, drei Gipfel reichen könnte.

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