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Meinung: Brauchen wir die Wahlfreiheit zwischen Ethik und Religion?

„Christen pro Ethik“ und die Demokratie

Es ist ein Stück aus dem Tollhaus: Wahlfreiheit wird als Wahlzwang diffamiert. Sind wir nach zwanzig Jahren schon wieder so weit, dass die Freiheit, zu wählen, was man für richtig hält, von Übel ist? Der argumentativen Armseligkeit entspricht die Verschleuderung von Steuergeldern: Da werden eben mal 1,4 Millionen Euro durch den Schornstein gejagt, um die in den Augen der Obrigkeit richtige Entscheidung zu befördern. Um noch mehr Wahlzwang vorzubeugen, kann man bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl dann auch gleich Herrn Wowereit und seine Partei setzen und den Bürgern die Freiheit lassen, den Koalitionspartner zu wählen.

G. Eisenbach, Berlin-Köpenick

Sehr geehrter Herr Eisenbach,

auf die Polemik in Ihrem Leserbrief möchte ich nicht eingehen, weil das nicht das Thema ist. Mit den von Ihnen vertretenen Zielen von Pro Reli will ich mich aber gern auseinandersetzen. Worum geht es bei der Volksabstimmung am 26. April? Berlin ist eine Weltstadt. Hier leben Menschen unterschiedlicher Nationen und Kulturen, Religionen und Weltanschauungen miteinander. Im gemeinsamen Ethikunterricht an der Oberschule wird diese Vielfalt zum Thema: Kinder und Jugendliche werden zum Dialog befähigt, sie finden und entwickeln Gemeinsamkeiten in der Orientierung an Grundwerten unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Eine Aufteilung in verschiedene Gruppen je nach Religionszugehörigkeit, wie jetzt von Pro Reli gefordert wird, nimmt den Jugendlichen die Chance auf diese gemeinsamen Erfahrungen.

Das gemeinsame Fach Ethik will allen Schülern eine gemeinsame Grundbildung zu Fragen der Ethik, zu Religionen und Weltanschauungen und zu Fragen der Lebensgestaltung ermöglichen. Vielfalt, Dialog und Gemeinsamkeit können als positive Werte im Unterricht lebendig vermittelt und erfahren werden. Über den gemeinsamen Ethikunterricht hinaus können alle Schüler – so wie es in Berlin schon immer war – zusätzlich an einem freiwilligen Religions- oder Weltanschauungsunterricht teilnehmen. Das Volksbegehren Pro Reli will den gemeinsamen Ethikunterricht abschaffen. Pro Reli will die jetzt vorhandene Wahlfreiheit, neben Ethik den Religionsunterricht wählen zu können, beenden. Den Jugendlichen würden damit die gemeinsamen Werteerfahrungen genommen. Das Fach Ethik ermöglicht es Schülern, miteinander zu reden – und nicht nur übereinander, wie das beim Wahlzwang zwischen Ethik und Religion der Fall wäre. Wenn Schüler christlicher, muslimischer, jüdischer oder anderer religöser oder weltanschaulicher Herkunft lernen, im Gespräch über unterschiedliche Lebensauffassungen einander zuzuhören, wird damit auch ein wichtiger Beitrag gegen die Ausbreitung von Parallelgesellschaften in Berlin geleistet. Das Fach Ethik fördert Gemeinsamkeiten in der Orientierung an Grundwerten und Menschenrechten. Für ein friedliches und befriedigendes Zusammenleben ist es erforderlich, die gemeinsame Anerkennung von Grundwerten zu entwickeln, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind. Es geht im Ethikunterricht besonders um Werte, die für alle gelten. Dazu gehören Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie und Solidarität. Indem diese Werte reflektiert werden, können sie für die Schüler zum Maßstab für die eigene Lebensorientierung und Lebensgestaltung werden. Wie wichtig dies ist, zeigen neue Studien, nach denen die Vorurteile gegenüber Juden, Muslimen und Christen wachsen. Vorurteile sind aber, die Geschichte zeigt es vielfach, eine Wurzel für ethnisch, religiös oder weltanschaulich motivierte Konflikte in der Gesellschaft.

Die durch das Fach Ethik vermittelte weltanschauliche Allgemeinbildung ist nicht durch eine bekenntnisgebundene Unterrichtung zu ersetzen. Das Berliner Modell des Ethik-, Religions- und Weltschauungsunterrichts fördert die individuelle Freiheit der Schüler. Im Unterschied zu anderen Bundesländern nehmen Schüler nicht nur am gemeinsamen Ehtikunterricht teil, sie können sich zudem für einen freiwilligen Religions- oder Weltanschauungsunterricht ihrer Wahl entscheiden. Darüber hinaus sieht das Schulgesetz im Ethikunterricht eine Mitwirkungsmöglichkeit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu einzelnen Themen vor, sodass Schülern eine Begegnung mit Vertretern unterschiedlicher Bekenntnisgemeinschaften ermöglicht wird. Damit ist eine umfassendere Bildung möglich, als dies das Angebot einer einzelnen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft leisten könnte. Das ermöglicht Jugendlichen eine größere Entscheidungsfreiheit in Fragen ihrer eigenen ethischen und religiösen bzw. weltanschaulichen Orientierung. In Berlin gibt es seit mehr als 50 Jahren Religionsunterricht auf freiwilliger Basis in Verantwortung der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Dieser Unterricht wird zu 90 Prozent vom Land Berlin finanziert. Wäre das Volksbegehren erfolgreich, würde bekenntnisgebundener Religions- und Weltanschauungsunterricht künftig staatlich benotet. Damit würde die in Berlin bewährte – wie auch historisch vielfach begründete – Trennung von Staat, Religion und Weltanschauung aufgehoben. Vor allem aber würde die Möglichkeit verbaut, dass Jugendliche miteinander eine Kultur des Dialogs entwickeln, sich auf gemeinsame Grundwerte verständigen und sich alle eine ethisch-philosophische und religionskundliche Allgemeinbildung aneignen. Die Freiheit, an beidem – am Ethikunterricht und an einem Religions- bzw. Weltanschauungsunterricht – teilzunehmen, bestünde dann nicht mehr. Das ist für die Integration in die freiheitliche Gesellschaft nicht förderlich.

Mit freundlichen Grüßen

— Walter Momper (SPD), Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin.

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