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Meinung: Was soll die instabile Türkei in der EU?

„Ja zur Türkei – aber die EU hält sich eine Absage offen“ vom 7. Oktober 2004 Nun hat die EUKommission ihre Empfehlung abgegeben, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.

„Ja zur Türkei – aber die EU hält sich eine Absage offen“ vom 7. Oktober 2004

Nun hat die EUKommission ihre Empfehlung abgegeben, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland und in der EU gegen einen Beitritt ist.

Der EU droht hier ein Automatismus, der letztlich auf ihre Ausdehnung nur nach Asien angelegt ist, und die Sorgen und Ängste der EU-Bürger werden nicht ernst genommen. Wo werden Diskussionen über befürchtete Zuwanderungsströme und kulturelle Konflikte geführt? Oder über die zusätzlichen Kosten durch einen Türkei-Beitritt? Und von anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, von Korruption und Folter will ich gar nicht reden.

Warum sagt uns niemand in Deutschland, dass der türkische Staat politisch instabil und hochgradig verschuldet ist und die Inflationsraten zwischen 40 und 100 Prozent liegen? Ich verstehe, dass die USA die Türkei als strategischen Außenposten noch brauchen, doch ist die EU nicht imstande, diesem Druck im Interesse ihrer Bürger zu widerstehen. Und unter den deutschen Volksvertretern möge sich niemand mehr wundern, wenn der EU-Frust entsprechend zunehmen wird und Austrittsforderungen immer lauter werden. Die Aufnahme der kaum europäischen und mehr asiatischen Türkei könnte die Gemeinschaft zur Implosion bringen. Denn eine Türkei als EU-Vollmitglied wäre die Preisgabe der europäischen Identität und der Religionsfreiheit.

Hanskarl Hindenberg, Aschau

Sehr geehrter Herr Hindenberg,

tatsächlich hat die Europäische Kommission inzwischen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfohlen – allerdings unter besonderen Auflagen. Sie äußern eine Reihe von Vorbehalten gegen diese Empfehlung, auf die ich hier eingehen möchte. Auf einiges will ich direkt eingehen, einige Argumente erscheinen aber auch in einem anderen Licht, wenn man einen Perspektivwechsel vornimmt, zu dem ich Sie hier gern einladen möchte.

In der momentanen Diskussion geht es immer um die Frage der Vor- und Nachteile des Beitritts. Man müsste aber viel mehr über die Vor- und Nachteile des Annäherungsprozesses der Türkei an die EU reden. Die Frage ist, ob dieser Prozess fortgesetzt werden soll, nicht, inwiefern die Türkei schon heute beitrittsreif oder die EU aufnahmefähig ist. Die Bilanz der türkisch-europäischen Annäherung war insbesondere in den letzten Jahren ausgesprochen positiv. Die Aussicht auf den Beginn von Beitrittsverhandlungen hat einen Reformschub veranlasst, europäische Werte nachhaltig in Politik und Rechtssystem verankert und damit sehr positive Wirkungen für die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen gehabt – von Frauen bis zu sprachlichen Minderheiten. Diese Entwicklung ist ein Erfolg der Türkei wie Europas gleichermaßen.

Vor diesem Hintergrund halte ich insbesondere den Eindruck eines Automatismus, in den sich die EU begibt, für relativierungsbedürftig. Der Umstand, dass die bisherigen Verhandlungen mit Beitrittskandidaten ausnahmslos erfolgreich abgeschlossen wurden, belegt weniger einen Automatismus als die offenbare Integrationskraft der Europäischen Union – in der Folge der Reformfähigkeit der Kandidaten wie auch der europäischen Strukturen. Die Einschätzung, dass die Kommission die Sorgen und Ängste der Bevölkerung übergeht, kann ich nicht teilen – schon, weil die von Ihnen unterstellte Ablehnung des türkischen Beitritts so nicht zutrifft. Zahlreiche Meinungsumfragen in der deutschen Bevölkerung, nicht nur aus dem „Zentrum für Türkeistudien“, sondern von vielen anderen Instituten, zeigen im Gegenteil eine deutliche Mehrheit für einen Beitritt der Türkei zur EU unter der Voraussetzung der Erfüllung der Beitrittskriterien. Nichts anderes empfiehlt die Kommission.

Auch ist unser Briefwechsel einer von vielen Belegen dafür, dass eine sehr breite öffentliche Diskussion des türkischen EU-Beitritts stattfindet. Vor einem Verlust der europäischen Identität muss indessen niemand Angst haben: Die staatlichen Strukturen in der Türkei sind im Gegensatz zu allen anderen muslimisch geprägten Staaten weitgehend von europäischen Vorbildern durchdrungen. Der feste Wille des Landes zur Zugehörigkeit zu Europa ist die Grundkonstante der türkischen Politik seit der Staatsgründung durch Atatürk. Jeder kleinmütige Umgang mit der Frage eines türkischen EU-Beitritts übersieht die historischen Chancen einer europäischen Integration der Türkei. So sind die jüngsten Reformen zur Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskriterien eben nicht nur als Versuch der Türkei zu deuten, die Eintrittskarte nach Europa zu lösen: Vielmehr sind sie auch ein überwältigender Beweis für die Attraktivität und Kraft der europäischen Ideen von Rechtsstaatlichkeit, Humanität und Demokratie. Ein Beitritt der Türkei zur EU würde aus diesem Grund Europa nicht schwächen, sondern stärken.

— Prof. Dr. Faruk Sen ist Direktor der Stiftung „Zentrum für Türkeistudien“ in Essen.

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