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Meinung: Mandelas mündige Erben

Das politische System Südafrikas ist – trotz schwacher Präsidenten – gereift.

W enn ein Land sich seiner Unterdrücker entledigt, verläuft seine Geschichte oft nach einem vertrauten Muster: Auf die Euphorie der Befreiung und das Versprechen, fortan alles besser zu machen, folgen Ernüchterung und Wut. Oft finden die neuen Machthaber das Regieren weit mühsamer, als sie anfangs geglaubt hatten. Ebenso schwer fällt ihnen oft die Überwindung der eigenen Vergangenheit. Zumeist zeigt sich erst hier, in der zweiten Phase des Übergangs, wohin sich ein Land nach einer größeren Umwälzung bewegt.

Dies gilt auch für den Wandel Südafrikas von der Apartheid zur Demokratie. Viele Menschen am Kap sind heute bitter enttäuscht über das Ausmaß an Korruption und Inkompetenz der Regierenden – und erinnern sich mit Nostalgie der Führer, die das Land vor 20 Jahren von den Weißen übernahmen und die damals noch mehrheitlich dem Gemeinwohl verpflichtet waren. Mit dem Tod des südafrikanischen Gründervaters Nelson Mandela ist nun der letzte große Widerstandskämpfer dieser Generation verschwunden.

Seine sehr schwachen Nachfolger Thabo Mbeki und vor allem Jacob Zuma sind zu einer Art Blitzableiter für den Verrat und die Ängste geworden, die viele Südafrikaner in dieser zweiten Phase des Übergangs empfinden. Viele begreifen erst jetzt, dass auf das zunächst weltweit bewunderte Land am Kap womöglich doch nicht das Happy End wartet, das seine Bürger nach der friedlichen Überwindung der Apartheid fast automatisch erwartet hatten. Stattdessen werden sie fast täglich daran erinnert, dass sich Stadtverwaltungen und Behörden heute in einem schlechteren Zustand als zum Machtantritt des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) vor 20 Jahren befinden und ihm durch den Tod von Nelson Mandela nun auch noch der moralische Kompass abhanden gekommen ist. Während sich die einen in ihrer Verzweiflung an den Mythos der Regenbogennation klammern und die Zustände verklären, beschwören andere nach dem Tod Mandelas düster eine Nacht der langen Messer.

Beides sind Extreme, die wenig mit der Realität zu tun haben. Sie verdecken, dass zwar nicht die stark angeschlagene Wirtschaft, aber doch das politische System seit dem Rückzug Mandelas im Jahre 1999 Fortschritte gemacht hat. Das Land hat eine oft schwierige, frustrierende, aber gleichzeitig auch lebendige, inspirierende und deshalb hoffnungsvolle Demokratie. Dass es dem ANC bisher nicht gelungen ist, die 1996 verabschiedete Verfassung des Landes gleich wieder zu unterhöhlen, verdankt Südafrika der Widerstandskraft seiner Bürgergesellschaft, allen voran den kritischen Medien, aber auch der (noch) unabhängigen Justiz. Beide haben sich in den vergangenen Jahren trotz aller Rückschläge als Bollwerk erwiesen, das nicht leicht zu knacken sein dürfte. Aber auch die Opposition ist am Kap weit lebendiger und bissiger, als viele glauben.

Diese Erfahrung musste auch Präsident Zuma machen, als er ausgerechnet auf der offiziellen Trauerfeier für Nelson Mandela vor den Staatschefs aus aller Welt von den Besuchern ausgebuht wurde. Hatten die meisten Experten zuvor erwartet, dass Zuma und sein ANC aus dem Tod Mandelas massiv Kapital schlagen würden, scheint genau das Gegenteil zu passieren: Vielen Südafrikanern wird durch die Trauer um Mandela und dessen Erbe plötzlich schmerzhaft bewusst, wie tief das Land und der ANC unter seinen Nachfolgern in nur wenigen Jahren gefallen sind. Das starke Band der Loyalität beginnt sich zu lösen. Für Zuma wurde der als Sternstunde seiner politischen Karriere gedachte Auftritt zu einer Demütigung.

Das heißt nicht, dass Zuma in Kürze abgelöst oder sein ANC bei den Wahlen im kommenden Jahr die Macht verlieren wird. Vor allem Letzteres ist schon wegen der Aura des ANC als Befreier ausgeschlossen. Dennoch dürfte es für viele Südafrikaner ein befreiendes Gefühl gewesen sein, mitten in der Trauer um ihren Volkshelden gespürt zu haben, dass sie nicht mehr nur auf Mandela angewiesen sind, sondern das Schicksal ihres Landes selbst in der Hand haben. Es ist eine Einsicht, die vieles verändern könnte – und auf die Mandela gewiss stolz gewesen wäre.

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