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Sarah Palin ist nun selbst im Fadenkreuz.

© ddp

Kontrapunkt: McCarthy in Deutschland

Die Gedankenfreiheit liebt der Deutsche, aber nicht die Meinungsfreiheit. Die Wiederbelebung der "bösen USA" wurde offenbar höchste Zeit - wie die Reaktionen auf das Attentat von Tucson verraten.

Wenn Deutsche ein Lied aus ihrer Heimat singen sollen, drucksen sie erst herum, dann wechselt ihre Gesichtsfarbe zwischen blass und rot, und meist endet die Peinlichkeit mit den Zeilen: "Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!" Es ist ein altes Lied, mit langer, ergreifender Tradition. Es drückt die Sehnsucht nach Freiheit aus. Die Piratenpartei hatte es 2009 zum Wahlkampfslogan gemacht, und sehr betagte Berliner erinnern sich noch an den 9. September 1948, als auf dem Höhepunkt der Blockade Ernst Reuter vor der Ruine des Reichstagsgebäudes "die Völker der Welt" aufforderte, die Stadt nicht preiszugeben. Nach dieser Rede erklang spontan aus der Menge das Lied "Die Gedanken sind frei". Ja, die Gedankenfreiheit liebt der Deutsche, und wenn aus Gedanken Taten würden, wäre Deutschland längst ausländerfrei.

Was aber der Deutsche nicht liebt, ist die Meinungsfreiheit. Darum schränkt er sie durch alle möglichen Gesetze ein. Und jeder Anlass ist ihm willkommen, um weitere Einschränkungen und mehr Gesetze herbeizuflehen. Das jüngste dieser Anlässe ist das Attentat von Tucson, Arizona. Völlig unabhängig von der Frage, was den Attentäter motivierte, dient es dazu, sich über das "Klima des Hasses" in den USA zu mokieren. Dadurch werden gleich zwei Bedürfnisse befriedigt. Erstens hatte es der Antiamerikanismus nach Amtsantritt Barack Obamas schwer, sich austoben zu können. Das kann er jetzt erneut, zwar ohne George W. Bush, dafür aber mit Sarah Palin und der Tea-Party-Bewegung im Fadenkreuz. Endlich hat der Dampfdrucktopf, in dem die Vorwürfe der Waffenverliebtheit, der Todesstrafe, des Christentums und des Antietatismus vor sich hinköchelten, ein Ventil gefunden. Die Wiederbelebung der "bösen USA" wurde offenbar höchste Zeit. Ansonsten hätte der "gute Deutsche" noch länger an Vorurteils-Dyspepsie gelitten.

Zweitens nährt der Hinweis auf das "Klima des Hasses" in den USA die Überzeugung, dass freie Meinungsäußerung auch zu frei sein kann, das deutsche rigide Modell dem amerikanischen liberalen Modell also überlegen ist. Der Hinweis nützt dem Selbstgerechtigkeitstrieb. Er pazifiziert. Weil es bisher keine einzige ursächliche Verbindung zwischen dem politischen Klima in den USA und der Bluttat von Tucson gibt, entlarvt sich derjenige, der solcher Verbindungen insinuiert, als eine Art moderner McCarthy (Senator Joseph McCarthy verfolgte Anfang der 50er Jahre wirkliche oder vermeintliche oder angebliche Kommunisten als Anstifter für Verbrechen derart vehement, wie es heute die Hexenjäger tun, die auf Palin und die Tea Party losgehen).

Damit kein Missverständnis entsteht: Auch in den USA wird nach dem Attentat des offenbar psychisch kranken 22-jährigen Mannes das "Klima des Hasses" kritisiert. Aber um Amerika muss man sich keine Sorgen machen. Die Meinungsfreiheit ist dort fest in der Verfassung und als Ideal im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Nicht nur Bürgerrechtsanwälte, wie etwa Harvey Silverglate aus Boston, hätten es sogar für richtig gehalten, wenn Adolf Hitler mit "Mein Kampf" dort auf Lesetour gegangen wäre. Denn er wie andere sind überzeugt davon, dass der öffentliche Diskurs auch über falsche Thesen besser ist als die Unterdrückung von Ansichten. Sorgen machen muss man sich indes um Deutschland (und Europa). Hier ist die Freiheit noch immer ein Luxusgut. Unterschwellig ist bereits das Verlangen zu spüren, wegen des Attentats von Tucson, Arizona nun endlich öffentliche Auftritte von Thilo Sarrazin verbieten zu dürfen.

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