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Meinung: Meine Bilder sind deine Bilder

Jedes Handy ein Reporter: Immer öfter bringen uns Amateure die Katastrophen nahe

Rund 300 Mal am Tag wird ein Londoner von einer Überwachungskamera eingefangen. Über vier Millionen dieser Closed-Circuit-TVs hängen wie Trauben an britischen Häuserwänden, über Bankautomaten und öffentlichen Plätzen, die meisten davon in der Hauptstadt. Dass trotz dieses Netzes visueller Kontrolle zuerst die privaten Bilder an die Öffentlichkeit gerieten – Minuten nach den Explosionen waren bei der BBC bereits 50 Bilder von Fotohandys eingelaufen, am Ende waren es tausende – zeigt, wie weit die Demokratisierung der Nachrichtenübermittlung vorangeschritten ist. Von „Bürger-Reportern“ ist inzwischen die Rede, um ein Phänomen zu erfassen, das am vergangenen Donnerstag einen weiteren qualitativen Sprung gemacht hat.

An 9/11 schickten die Passagiere noch kurz vor den Abstürzen SMS aus den Flugzeugen. Bei der Flutkatastrophe in Asien richteten die Touristen ihre Digitalkameras schnell aufs Meer. Bei den Anschlägen in London kam wieder neue Technik zum Einsatz: Noch aus den rauchgefüllten Zügen wurden Bilder per Handy verschickt, einige Opfer stellten wenige Minuten nach der Katastrophe sogar ihre eigenen Berichte als Blogs ins Internet.

Wir erleben Nachrichten in Echtzeit, das ist nichts Neues, auch nicht die Warnung des französischen Philosophen Paul Virilio vor der „Atombombe der Bilder“, der Gefahr, die von dieser ungefilterten, unkontrollierbaren Informationsflut ausgeht. Paradoxerweise wird gleichzeitig deutlich, dass es ohne Bilder auch keine Ereignisse mehr gibt: Wovon es kein Bild gibt, das existiert in unserer Wahrnehmung nicht. Jahrelang war von den Massakern im bosnischen Srebrenica die Rede, erst als vor wenigen Wochen ein Video auftauchte, das die Exekution von muslimischen Bosniern durch Serben zeigt, intensivierte sich die Suche nach den Tätern.

Vermutlich hatte auch die weitläufige Absperrung der Londoner Tatorte durch die Polizei das Ziel, die Bilder von den Anschlägen zu kontrollieren. Ohne die Aufnahmen der Privathandys wären uns die Verwüstung und das Chaos zum Teil verborgen geblieben. Die Öffentlichkeit ist selbst zum Nachrichten- und Bilderbeschaffer geworden. Eine bewusste Synchronisierung der Emotionen der Öffentlichkeit ist so immer weniger leicht möglich.

Zugleich entfällt damit zunehmend die Aufbereitung von Nachrichten. Die moderne Technik entprofessionalisiert das Nachrichtengeschäft und zerstört die klassische Hierarchie zwischen Experte und Zuschauer. „Es gibt immer jemanden, der noch näher am Geschehen dran ist“, lautet der Kernsatz der Blogger, und näher dran, soll bedeuten: auch authentischer, objektiver.

Dass sich bei dem Umgang mit solchem Material die Frage nach der Authentizität neu stellt, nach der Qualität der Ware, ist ebenso klar, wie die Tatsache, dass das Recht am eigenen Bild in einem solchen Moment kaum – und danach nie wieder – einforderbar ist.

Vor allem aber verändert der Einfluss solcher Nachrichtenamateure die Wahrnehmung von Ereignissen wie jetzt 7/7, weil ihre Bilder und Blogs die Perspektive verändern. Es ist die Perspektive des Individuums: der Blick auf die Welt durch das eigene Handy.

„Ich dachte, ich müsste sterben“, beschreibt der U-Bahnfahrer Carlo Carrington seine Erfahrung, „und dann dachte ich an meine Tochter, meine Freundin und meine Eltern und dass ich sie nie wiedersehen würde“. Das Minivideo, das er dann zwischen Verletzten und Toten drehte, wurde sofort auf der ganzen Welt gesendet.

Pheidippides musste über 40 Kilometer laufen, um den Athenern vom Sieg bei Marathon zu berichten. In dieser Zeit konnte er sich überlegen, wie er die Nachricht übermitteln will. Carrington hat einfach nur draufgehalten. Weil niemand näher dran war.

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