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Menschenrechte: Die Würde des Kindes ist unantastbar

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird 60 Jahre alt. Ihre Einhaltung ist auch bei uns noch keine Selbstverständlichkeit.

Von Caroline Fetscher

Vor drei Tagen liefen im Südwesten Kenias etwa dreihundert Mädchen von zu Hause fort, die Jüngsten unter ihnen neun Jahre alt. Sie rannten über staubige Straßen und suchten – manche ermutigt von den eigenen Eltern – Zuflucht in Kirchenhäusern und bei Frauenorganisationen. Den Mädchen „drohte das Messer“, wie es heißt. Nach einer alten Tradition sollten sie sich einem Ritual unterziehen, bei dem die Genitalien systematisch verstümmelt werden (oft von nahen Angehörigen wie Müttern und Großmüttern), damit die Mädchen nicht „unrein“ bleiben. Auch wenn der Preis der Zwangsbeschneidung hoch ist, wenn einige Kinder verbluten oder an einer Sepsis verenden, das Ritual hält sich hartnäckig. Millionen Mädchen vom Nordirak über Ägypten bis Südafrika haben „das Messer gesehen“. Mehr als 130 Millionen Frauen auf der Welt leben mit den Folgen. Staatliche und nichtstaatliche Kampagnen gegen die inzwischen mehr und mehr gesetzlich verbotene Praxis fangen erst sehr allmählich an zu greifen.

Diesen Mädchen, die unter Schock und Scham versuchten, ihre Integrität als weibliche Wesen zu retten, schenkte die Weltöffentlichkeit ein paar Zeitungszeilen. In derselben Woche, in der sie in ihrer kenianischen Provinz vor den Messern flüchteten, suchten Indiens Polizisten und Geheimdienstler nach den Attentätern von Bombay, in Thailand protestierten Tausende gegen die Korruption der Regierenden, im Kongo darbten Bürgerkriegsflüchtlinge, vor Somalias Küste hatten Piraten einen gekaperten Öltanker in ihrer Gewalt, in Nigeria zogen religiöse Fanatiker gegeneinander los und verursachten mitten im Frieden ein Massaker. Neben alledem drängten kriselnde Banken und erschütterte Börsen in den Vordergrund. Mit den vielen Schreckensmeldungen aus anderen Flecken des Erdenrunds konnte die Nachricht der Mädchen in Kenia schwerlich konkurrieren.

Menschenrechte waren zunächst Männerrechte, dehnten sich allmählich auf das andere Geschlecht aus und erfassen erst heute, mit zögerlichen, kleinen Schritten, auch die „Zwergenpopulation“ des Planeten, die Kinderbevölkerung. Nur 23 von 192 Staaten haben das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung ins Gesetz aufgenommen. In Deutschland geschehen im Dezember vor acht Jahren. Mit Leichtigkeit springen spektakuläre Fälle von Kühlschrankbabys und Kinderschändern in die Schlagzeilen. Zäh wehren sich hingegen Politik und Medien auch in Deutschland gegen die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung. Menschen- als Männerrechte sind jung. Frauenrechte noch jünger. Kinderrechte kommen eben erst zur Welt. Und doch tun wir so, als seien Menschenrechte eine nachgerade langweilige, tautologische Selbstverständlichkeit. Aber sie verstehen sich gerade nicht von selbst.

Wo sie nicht massenhaft evident und eklatant öffentlich werden, sind Menschenrechtsverletzungen ein eher unliebsames Thema, wie die Menschenrechte selbst gern als Terrain der „Gutmenschen“ abgehandelt, wo nicht abgetan werden: Da reden, berichten welche von Verhältnissen, die natürlich schlimm sind, aber man weiß ja sowieso, dass die Sprecher auf der richtigen Seite sind. Öde! Menschenrecht: Paradoxerweise lässt ja der Begriff allein schon nichts Gutes ahnen, weder Menschlichkeit noch Recht.

Wo von Menschenrechten die Rede ist, da ist es meist ein Katzensprung zum Entsetzen. Hört man das Wort, tauchen vor dem inneren Auge sofort negative Szenarien von Angst, Bedrohung, Flucht und Kerkern auf. Mit dem Dilemma dieser Bildproduktion haben es die Verfechter der Menschenrechte zu tun, deren Broschüren und Informationsmaterial sich einer ikonografisch eingeschränkten, visuellen Ästhetik bedienen. Auf Abbildungen finden sich Gitterstäbe, Stacheldraht und karge Haftzellen, ernste oder lachende Kinder in ärmlicher Umgebung, zerfurchte Greisengesichter, ins Leere greifende Hände oder, zur Not, abstrakte Symbole. Oft werden so, zwischen Opferkitsch oder forciertem Optimismus, vor allem ambivalente Emotionen geweckt, Abscheu, Verstörung und Widerwillen ebenso evoziert wie Empörung und Voyeurismus. Auch dieser Cocktail, der in sich ein Symptom für die ethische Unreife der globalen Gesellschaft ist, trägt dazu bei, dass Menschenrechte keine etablierten Fernsehformate auf den Plan gerufen haben, keine regelmäßigen Sonderseiten in den Gazetten, keinen Einzug in die Pflichtcurricula aller Schulen.

Was mit solcher Selbstverständlichkeit abgetan werden darf oder konsumiert zu werden scheint, das ist in Wahrheit in seiner Dynamik und Tragweite kaum bekannt. Über den konkreten Kern, den umwälzenden Inhalt und Charakter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die vor sechzig Jahren, am 10. Dezember 1948, als Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, sind allerdings die wenigsten Erdenbürger, auch in den westlichen Demokratien, tatsächlich aufgeklärt. So offenbarte eine Studie der Universität Marburg und des Deutschen Instituts für Menschenrechte im Dezember vor vier Jahren, dass Deutschlands Bevölkerung eine nur vage Vorstellung von den universellen Rechten der Menschen besitzt. 20 Prozent der Befragten hatten noch nie von der UN-Erklärung gehört, die Mehrheit erkannte gerade etwa sechs von 18 der aufgeführten Menschenrechte.

Dabei ist Resolution 217 A (III), angenommen mit 48 Stimmen, ohne Gegenstimme und mit acht Enthaltungen, unterzeichnet im Palais de Chaillot in Paris, eine historische Sensation. Sie ist der global erstaunlichste, revolutionärste soziale und politische Text, auf den sich eine große Gruppe von Zeitgenossen jemals geeinigt hat. Unter dem Eindruck des ungeheuerlichsten Zivilisationsbruchs, der Schoah, schickte man sich 1948 an, mit säkularem Pathos ein neues Zeitalter festzuschreiben. Eine globalgesellschaftlich verbindliche Grundlage aus Verantwortung und Respekt für jedes einzelne Individuum sollte in einen universell geltenden Rechtsrahmen gefasst werden, unter dessen Geltungsanspruch diese Menschenrechte noch über den Bürgerrechten, über den Verfassungen einzelner Staaten rangieren. Voraussetzung für diesen Akt war die Anerkennung eines Konzepts, dessen Genese zwar metaphysisch konnotiert ist, das die Erklärung jedoch ausdrücklich säkular, fern von Religion und Glauben, auslegt. In Artikel 1 rangiert der Begriff dafür noch vor der Erwähnung der Rechte: die Menschenwürde. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Frühe Ansätze des Konzepts von Menschenrecht und Menschenwürde entwickelten sich im Humanismus und in der Epoche der Aufklärung, zentral war der Gedanke, dass sich aus dem Naturrecht oder der Vernunft grundlegende, subjektive Rechte von Individuen ableiten lassen. Allein weil der Mensch ein Mensch ist, ist er a priori, ohne notwendige Letztbegründung, mit Rechten ausgestattet. Für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sind sie unveräußerlich und unteilbar, sind über den Eintrag in die Verfassungen einklagbar und gelten überall, wie Artikel 2 besagt: „Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.“

Jahrhundertelang, Jahrtausendelang wäre ein solcher Text als pure Ketzerei oder lachhafte Anmaßung eingestampft, seine Verfasser verfolgt worden. Fixierte Herrschaftshierarchien im Innern von Clans und Fürstentümern, die mindere Wertigkeit von Frauen gegenüber Männern, Fremden gegenüber eigenen Leuten waren unhinterfragte Selbstverständlichkeiten. Warum soll mich das Los eines anderen interessieren, der mir weder Nutzen noch Vorteil bringt? Allenfalls lässt sich erwägen, ob ich bei Gott, den Ahnen oder Allah einen Stein im Brett habe, wenn ich Almosen an die Armen verteile. Auch dann ist aber der andere Mittel zum Zweck. Von einem aus dieser Sicht grotesken Phänomen einer „Fernstenliebe“ erfuhr die Welt erstmals durch eine Kampagne britischer Bürger gegen den Sklavenhandel, die der Historiker Adam Hochschild erforscht hat. Er schreibt: „Jede Epoche der Geschichte verzeichnet Aufstände von Unterdrückten, aber die englische Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei war die erste dauerhafte Massenkampagne jemals, in der es um andere ging. Manche Briten handelten sogar gegen ihre eigenen Interessen. In Sheffield, berühmt für seine Werkzeugmacher, die Scheren, Sicheln, Messer, Rasierklingen herstellten, unterzeichneten 769 Metallhandwerker im Jahr 1789 eine Petition an das Parlament. Ihre Waren wurden an Kapitäne verkauft, die sie als Währung beim Ankauf von Sklaven verwendeten: ,Wir, die Unterzeichner, betrachten den Fall der afrikanischen Menschen als unseren eigenen.‘ Mit ungläubigem Entsetzen schrieb Stephen Fuller, Londoner Agent für die Pflanzer auf Jamaika und eifriger Vertreter der Sklaverei, dass die Petitionen, mit denen das Parlament überflutet wurde, von keinerlei Schaden oder dergleichen auf Seiten der Unterzeichner sprechen.“ Der Historiker konstatiert: „Er war zu Recht überrascht. Das war neu in der Geschichte der Menschheit.“

Und es ist noch immer vergleichsweise neu. Auch noch im Land der Verursacher des Holocaust, jenem Land, das – ex negativo – für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gesorgt hat. Gewalttätige Erziehungsstile von Eltern gegen Kinder werden trotz eindeutiger Gesetzeslage als soziale Entgleisung betrachtet. Doch die Toleranz gegenüber deutschen wie migrantischen erwachsenen Tätern, die Kinder physisch und psychisch attackieren, ist ein Hauptgrund für die wachsende Gewalt an Schulen und auf der Straße, das Menschenrecht der Kinder wird noch immer nicht überall als kostbares Rechtsgut verhandelt. Oder: Eine Richterin, erstklassig ausgebildet, urteilte unlängst in Deutschland über die hier lebende Ehefrau eines Marokkaners, die sich nicht von ihrem Mann misshandeln lassen wollte, diese habe das hinzunehmen – sie habe schließlich gewusst, aus welcher Kultur der Mann stammt. Immerhin wurde die Richterin dienstrechtlich gerügt. Zum Jahrestag der Menschenrechte pocht Kanzlerin Angela Merkel darauf, dass diese Maßstab der Außenpolitik seien, Entwicklungshilfe an sie gebunden werden müsste. Ein Anfang wäre es, im Ausland nur noch Schulprojekte zu unterstützen, bei denen gewaltfreie Erziehung garantiert wird – dies ist bisher fast nirgends der Fall.

Nicht nur Gerichtssaal, Jugendamt oder Stammtisch haben Probleme mit dem Verständnis von Menschenrechten, auch in der Philosophie wird der Begriff der Menschenwürde zur Debatte gestellt, wie Heiner Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte in einer vor wenigen Tagen erschienen Streitschrift beklagt. Der Begriff Menschenwürde, erfährt Bielefeldt bei den aktuellen Philosophen, sei eine metajuristische Pathosformel, eine Gefahr für die Liberalität der Gesellschaft, könne zum Vehikel von Partikular interessen werden, sei ein unzumutbares, zivilreligiöses Bekenntnis und führe zu autoritärer Moralisierung. Solche Urteile, die sich selbst auf der Höhe der Zeit ansiedeln, leugnen aktiv den Achtungsanspruch im Menschenrecht, den Bielefeldt als „Quelle normativer Verbindlichkeiten überhaupt“ erkennt. Sie befinden sich nicht auf der Höhe der Zeit, sondern in der Höhle der Vergangenheit. Nur haben sie keine vormoralische Axt dabei, sondern ein postmoralisches Skalpell. Sieht man genauer hin, blitzt da ein Messer auf, ähnlich bedrohlich wie das, vor dem die Mädchen in Kenia geflüchtet sind. Noch hier, in diesem Auszug aus dem anspruchsvollsten Diskurs der Gegenwart, ist es zu merken: Die Menschenrechte sind neu in der Geschichte der Menschheit. Neuer, als wir wahrhaben wollen.

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