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Michael Blumenthal.

© picture-alliance/ ZB

Michael Blumenthal: Auch ich bin – wieder – ein Berliner!

Lebensqualität und Menschenfreundlichkeit sind für Michael Blumenthal die beeindruckendsten Züge des Berliner Lebens. Die Stadt seiner Jugend ist 20 Jahre nach der Wende zu einer Weltstadt geworden.

Für diejenigen von uns, die mit den Qualen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts in nähere Berührung gekommen sind, ist das Deutschland von heute nichts weniger als ein Wunder. Dass am Ende des Jahrhunderts plötzlich ein friedliches wiedervereinigtes Deutschland entstand – demokratisch, stabil, prosperierend und ökonomisch an erster Stelle in der sich herausbildenden Europäischen Union –, sollte auch den letzten Zweifel daran beseitigt haben, dass Geschichte unvorhersehbar ist. Das Gleiche gilt für Berlin. Für mich ist die Neubelebung dieser aufregenden Stadt nach dem Fall der Mauer das Kernstück und Symbol der wundersamen Wiedergeburt Deutschlands nach dem Ende des Kalten Krieges. Meine frühen Erinnerungen an das Berlin unter den abscheulichen Nationalsozialisten konnte man getrost vergessen, und der verstümmelte Nachkriegsnachfolger hat mich stets traurig gemacht und wehmütig an für immer vergangene bessere Zeiten zurückdenken lassen. Daher war es umso faszinierender, die erstaunliche Wiederbelebung der Stadt in den vergangenen zwei Jahrzehnten mitzuerleben. Aufgrund der Berliner, die ich kennengelernt, der Freunde, die ich gewonnen habe, und meiner Kollegen am Jüdischen Museum sowie der vielfältigen Angebote und Attraktionen, die Berlin zu bieten hat, ist es zu einer meiner Lieblingsstädte auf der Welt geworden. Niemand ist darüber mehr überrascht als ich selbst.

Vor einiger Zeit fragte ich Lala Süsskind, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, ob sie sich als Deutsche verstehe. Da viele nichtjüdische Deutsche von deutschen Juden meinen, sie seien vorrangig Juden, bin ich immer neugierig darauf, wie sie selbst sich sehen. Süsskind fiel die Antwort offensichtlich nicht leicht. Sie sah mich nachdenklich an und gab mir dann eine zweideutige Antwort. Die Frage sei nicht so einfach zu beantworten, erklärte sie, fügte aber rasch hinzu, auf jeden Fall sei sie eine rückhaltlos hundertprozentige Berlinerin. „Meine Treue gilt Berlin“, erläuterte sie. „Es ist meine Stadt und meine Heimat, und ich fühle mich als ein Teil von ihr.“

Süsskind gehört jener Generation von Juden an, die noch gewissermaßen im Schatten des Holocaust aufgewachsen sind, was ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Identität erklärt. Doch ihre Begeisterung für Berlin ist ohne Vorbehalt, und sie überrascht mich nicht. Denn ich teile sie. Nachdem ich den größten Teil meines Lebens Amerikaner gewesen bin und es bleibe, muss ich klar feststellen: Auch ich bin – wieder – ein Berliner!

Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung ist Berlin zu einer Weltstadt geworden, die eine stetig wachsende Zahl ausländischer Besucher anzieht, und ein mehr als „lebenswerter“ Ort mit vielen Attraktionen. Im Lauf der Jahre habe ich in mehreren Großstädten in Europa und den Vereinigten Staaten gelebt, und jede von ihnen hatte ihren besonderen Charme. Washington ist mit seinen berühmten Gebäuden und Denkmälern einzigartig in Amerika; San Francisco rühmt sich zu Recht einer der spektakulärsten Lagen der Welt, und die Dynamik und Vielfalt New Yorks suchen ihresgleichen. Die Intimität Genfs am Lac Léman habe ich geliebt, und wer könnte den mannigfaltigen Attraktionen von Paris widerstehen, seinen Kirchen und anderen Architekturschätzen, der Harmonie seiner Plätze, den kulinarischen Tempeln und dem gallischen Savoir-vivre? Trotzdem wäre Berlin heute für ein Leben fern meiner Heimatstadt Princeton die erste Wahl. Die Berliner besitzen eine gesunde Skepsis gegenüber ihren Politikern, und sie meckern gern, weshalb ich ihnen oft rate, die guten Seiten nicht zu vergessen. Denn sie genießen, ob sie es nun zugeben oder nicht, einen generell hohen Lebensstandard, gute öffentliche Dienstleistungen und ein reiches Kulturangebot.

Berlin mag wie alle Großstädte Probleme haben, aber wer das überfüllte und überlastete Nahverkehrsnetz von Manhattan kennengelernt hat, dem erscheint das von Berlin im Vergleich geradezu glanzvoll. Mir gefällt besonders die U-Bahn, die sauber, modern, selten überfüllt und zudem pünktlich ist. Die elektronische Anzeige, die den Fahrgästen genau anzeigt, wann der nächste Zug eintreffen wird, ist großartig. Wieso New York seinen Nahverkehr nicht ähnlich nutzerfreundlich gestalten kann, ist mir ein Rätsel.

Lebensqualität und Menschenfreundlichkeit sind für mich die beeindruckendsten Züge des Berliner Lebens. Die Stadt befindet sich ständig in Geldnöten und ächzt unter einer der größten Schuldenlasten aller deutschen Großstädte, dennoch ist, Bankrott hin oder her, stets genug Geld da, um durch Investitionen in die Infrastruktur und die entsprechenden Dienstleistungen diese besondere Sorge um die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens zu gewährleisten. Die Straßen sind gefegt, Schlaglöcher verfüllt, und Parks und Grünanlagen werden gewissenhaft gepflegt. Während die meisten Großstädte mit einem oder mehreren heruntergekommenen, slumähnlichen Vierteln zu kämpfen haben, kenne ich in Berlin nicht ein einziges solches Viertel. An den Wochenenden, wenn die Sonntagsspaziergänger in großer Zahl unterwegs sind, finden überall in der Stadt Inlineskate- oder Fahrradrennen statt – manchmal zu viele, finde ich –, doch die Fußgänger und Autofahrer nehmen die Sperrung von Durchgangswegen und -straßen gleichmütig hin. Und die wegen ihres konservativen Geschmacks und gelegentlich diktatorischen Verhaltens heftig kritisierte Bauverwaltung leistet bei der Stadtplanung und der Entwicklung einzelner Viertel bessere Arbeit, als es in den meisten anderen Städten, die ich kenne, gelingt.

Michael Blumenthal

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