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Mindestlohn: Politik im Briefkasten

Der Post-Mindestlohn ist falsch: Was ist mit denen, die übrig bleiben und deren durch eigene Arbeit selbstbestimmte Existenzsicherung nicht im Fokus von Interessengruppen oder politischer Opportunität liegt?

Von Antje Sirleschtov

Es ist ein Fehler, dass sich an diesem Freitag die Mehrheit des Deutschen Bundestages dafür entscheiden wird, Briefträgern einen Mindestlohn von 9,80 Euro pro Stunde gesetzlich zu garantieren. Und zwar nicht, weil das ein Euro zu viel ist und deshalb möglicherweise ein paar Briefträger den Job verlieren könnten. Dass hierzulande Jobs verloren gehen, hat viel mehr Ursachen.

Ein Fehler ist diese Entscheidung, weil dieser Mindestlohn und alle, die ihm nun folgen werden, die falschen sind. Denn sie suggerieren Schutz für Menschen, die diesen Schutz nicht am nötigsten haben. Und sie geben der Politik die Chance, sich um die Antwort auf eine der Kernfragen der modernen Gesellschaft herumzudrücken: Gilt der Satz, wonach der Mensch in diesem Land auch im 21. Jahrhundert noch von seiner Hände Arbeit leben können muss? Und wenn er gilt, gilt er dann für jeden?

Nicht weniger als diesen Anspruch muss die Gesellschaft, muss die Politik, einlösen, wenn sich die deutsche Marktwirtschaft auch unter den Bedingungen der Globalisierung zu ihren Wurzeln bekennen und sozial nennen will. Und zwar für jeden!

Der Weg, den die große Koalition gewählt hat, tut aber genau das nicht. Schlimmer: Er führt in die Kapitulation des eigenen Gestaltungsanspruchs. Statt Rahmenbedingungen zu definieren, überlässt man das Schicksal derer, die den Rahmen am nötigsten brauchen, dem freien Spiel der Kräfte und öffnet Partikularinteressen Tür und Tor. Es wird unweigerlich zu einem Häuserkampf von Einzelgewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kommen. Im besten Fall werden Entsendegesetz oder Mindestarbeitsbedingungengesetz in ein paar Monaten unterste Lohngrenze für Bauarbeiter, Briefträger, Gebäudereiniger und eine Handvoll weiterer Berufsgruppen definieren. Sie werden wahlweise profitiert haben von der Kraft ihrer Gewerkschaften, vom Willen ihrer Arbeitgeber, sich vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen oder auch nur von politischen Opportunitäten. Wahlterminen zum Beispiel.

Aber was ist mit denen, die übrig bleiben und deren durch eigene Arbeit selbstbestimmte Existenzsicherung nicht im Fokus von Interessengruppen oder politischer Zufälligkeiten liegt? Bleiben sie das Heer der „working poor“, die nach getaner Arbeit um Almosen beim Sozialamt bitten? Und für die der Rest – auch die Briefträger – die Miete zahlt? Mal mehr, mal weniger, je nach politischen Mehrheiten oder Kassenlage.

Der Ausweg kann nur in einem allgemeinen Mindestlohn liegen, den der Staat einem jeden, der arbeitet, ohne Ansehen der Person garantiert. Keine Geringeren als die Urväter des Liberalismus haben dafür Hinweise gegeben. „Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muss mindestens so hoch sein, daß er davon existieren kann“, schrieb Adam Smith vor 200 Jahren. Der geistige Vater der sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken, nannte es ein „Marktversagen“, dem mit Mindestlöhnen zu begegnen sei, wenn der Preis der Arbeit wegen Überangebots ins „Ungesunde“ fällt. Dies ernst zu nehmen, hieße heute, Arbeitgeber zu verpflichten, jedem Arbeiter in diesem Land mindestens die eigene Existenz zu sichern. Nicht mehr. Für den Rest, etwa die Familie, wird die Gesellschaft, ihrem Vermögen entsprechend, zuschießen müssen. Ein Rahmen, den dem Gemeinwohl verpflichtete Politiker setzen können.

Ludwig Erhard hat 1952 im Mindestarbeitsbedingungengesetz den Tarifpartnern die Suche unterster Lohngrenzen aufgegeben und die Politik zum Schlichter im Notfall erklärt. 50 Jahre später sind die Tarifpartner dieser Aufgabenverteilung des Nationalstaates nicht mehr gewachsen. Unheilige Allianzen, nicht nur bei der Post, zwingen stattdessen Politiker, darüber zu bestimmen, dass eine Stunde Briefe austragen zwei Euro weniger wert ist als eine Stunde Beton mischen. Wollen wir das wirklich? Und vor allem: Wollen wir warten, bis Gewerkschaften und Arbeitgeber der Bulgarinnen und Rumäninnen, die hier bald legal unsere Alten pflegen, einen Bundestag dazu zwingen, den Pflegemindestlohn auf 50 Cent runterzudrücken?

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