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Meinung: Misstrauen funktioniert ohne viele Worte

Schröder sollte seinen Antrag knapp stellen – ohne Sachfrage Von Jost Müller-Neuhof

Kanzler Gerhard Schröder will die Vertrauensfrage nach Artikel 68 Grundgesetz (GG) stellen, und mal wieder macht er alles falsch, meinen viele, und die Opposition meint es natürlich sowieso. Spricht nicht vorher mit dem Bundespräsidenten, der hernach das Parlament auflösen soll, spricht nicht zeitig mit dem Parlament, bevor es abstimmen soll. Das öffentliche Kopfschütteln ist aber nur so heftig, weil sich ein für die Öffentlichkeit ungewohnter Vorgang ereignet: die Transformation des recht freien politischen Diskurses in ein verfassungsrechtlich strikt reguliertes Verfahren, ein höchst seltenes dazu, mit der politisch gravierendsten Konsequenz: Neuwahlen.

Dem großen öffentlichen Interesse steht also eine geringe institutionelle Beredsamkeit gegenüber. Denn die Konstruktion der Vertrauensfrage legt Wert darauf, dass sich drei Verfassungsorgane vollkommen frei entscheiden können: der Kanzler darüber, den Antrag zu stellen; der Bundestag darüber, ihn abzulehnen; und der Bundespräsident darüber, das Parlament aufzulösen. Zu viel Austausch zwischen ihnen ist ihrer ausgeklügelten Balance im Prozedere der Vertrauensfrage eher abträglich. Gerhard Schröder jedenfalls, so viel ist sicher, hält sich dran.

Der Kanzler kann sich nun trotzdem hochfliegende Gedanken machen, wie er sein Vorgehen verfassungsfest(er) macht. Er muss es aber nicht, denn letztlich gilt auch hier: Weniger ist mehr. Das betrifft vor allem die Koppelung der Vertrauensfrage an eine Sachfrage. Es steht vollkommen außer Zweifel, dass es Schröder primär um Neuwahlen geht und dass ein wie auch immer geartet vorgebrachtes Misstrauen des Parlaments nur Vehikel dorthin ist. Entgegen landläufiger Meinung ist dieses Motiv verfassungsrechtlich aber zulässig, ja nicht einmal bedenklich und genießt längst den Segen aus Karlsruhe. Bindet Schröder sein Vertrauen an einen Sachantrag, muss er sich dagegen doppelt verkünsteln: einmal durch seine unechte Bitte um Vertrauen – und dann noch durch einen Sachdisput, der im Zweifel auch kein echter ist.

Einmal reicht. Denn dafür stellt das Grundgesetz eine vollkommen ausreichende Basis bereit. Die Vertrauensfrage ist kein letztes Aufgebot eines angeschlagenen Regierungschefs, sondern, wie Roman Herzog einmal formulierte, ein „präventiver Gegenangriff“, auch wenn das widersprüchlich klingt.

Der Kanzler muss gerade nicht schon so manche Schlappe im Parlament eingesteckt haben, um den Antrag zu stellen. Es genügt die Prognose, er werde sein politisches Programm nicht mehr durchsetzen können. Allein schon angesichts der aufbegehrenden Linken in der eigenen Fraktion ist die künftige Mehrheit fraglich. Zudem entwickelt die Vertrauensfrage eine Eigendynamik. Indem Schröder sie ankündigt, spricht er jedenfalls seinen Koalitionären das Misstrauen aus. Weshalb die Grünen vor diesem Hintergrund weiter unbedingt einem Kanzler vertrauen wollen, der ihnen offenkundig misstraut, wird ihr Geheimnis bleiben.

So wenig wie der Kanzler muss sich der Präsident den Kopf zerbrechen. Er muss das Gemeinwohl beachten und den Zweck des Artikel 68, wieder politische Stabilität zu schaffen. Mit seiner Entscheidung für Neuwahlen kann Horst Köhler aus dem Stand beides erreichen. Dass er daneben mit Angela Merkel möglicherweise jener Frau ins Kanzleramt hilft, die ihm ins höchste Staatsamt geholfen hat, ändert an der hundertprozentigen Verfassungskonformität seines Handelns nichts. Er kann mit bestem Gewissen Ja sagen, und das Bundesverfassungsgericht wird ihm nicht in den Arm fallen. Es hat auch die Vertrauensfrage Helmut Kohls von 1982 passieren lassen, die einzige in der Geschichte der Bundesrepublik, bei der man in der Tat juristisch hätte zaudern können. Doch letztlich ist ein Wahlausgang immer unsicher. Mit diesem Faktum bietet die Vertrauensfrage in aller Regel genügenden Schutz vor ihrem Missbrauch.

Schröder sollte auch nicht vor dem Bundestag die Blockade durch den Bundesrat beklagen. Mit verschiedenen Mehrheiten in beiden Gremien klar zu kommen, gehört seit über 30 Jahren zum Regierungsgeschäft. Eine Verfassungsreform könnte das ändern, aber besser wäre, der Wähler änderte es. Eine Krise, für deren Bewältigung es Artikel 68 gibt, ist es nicht. Der Kanzler begründet seinen Antrag deshalb am besten nur knapp. Misstrauen funktioniert genauso wie Vertrauen: ohne viele Worte.

Der Autor ist Redakteur des Tagesspiegels und lehrt Rechtskommunikation an der Freien Universität Berlin.

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