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Meinung: Mit uns zieht die neue Zeit

Die SPD macht mit dem Parteitag einen größeren Schritt, als sie selbst begreift

Sie werden sich heute noch einmal selbst zerfleischen, die Sozialdemokraten, werden leidenschaftlich streiten – wie nur sie es können. Am Ende wird Gerhard Schröder den Sonderparteitag als Sieger verlassen, ein wenig gerupft, aber als Sieger. Wenn der Kanzler dem sozialdemokratischen Schlachtfeld zum G8-Gipfel in Evian entfliegt, lässt er die Schar seiner Kritiker zurück: unterlegen, eingebunden oder zermürbt. Die Delegierten werden das Feld mit dem Gefühl verlassen, dass es irgendwie nicht mehr so ist wie früher mit der deutschen Sozialdemokratie. Einige werden darüber tief traurig sein.

Bei der nervraubenden Debatte um Schröders Agenda 2010 verblasst leicht, wie viel der Parteichef seinen Genossen mit diesem Reformwerk zumutet. Gewiss, die zaghaften Schritte allein werden nicht reichen, um das Land aus seiner Lethargie zu wecken. Und doch sendet die SPD mit diesem Parteitag ein Signal: Sie ist bereit, Verantwortung für das Überleben des Sozialstaats zu übernehmen. Sie ahnt, dass er nicht mehr so weich, so ausgepolstert sein kann wie in der Vergangenheit. Sie hat begriffen, dass sie weder sich selbst noch das Land länger betrügen darf, mit einer Es-wird-schon-alles-werden-Mentalität.

Die SPD mit ihrem alten Avantgarde-Denken hat nun die Chance, zur ersten deutschen Volkspartei zu werden, die den Umbau wagt. Viel zu lange haben sich Union und SPD als Anwalt der Besitzstandswahrer verstanden. Schon in den 80er Jahren hätten die Systeme für spätere Generationen zukunftsfest gemacht werden müssen. Doch der Sozialstaat Deutschland ist den Beweis schuldig geblieben, dass er sich selbst beschränken kann. Beschränkt war allein der Horizont der Parteien – auf ein oder zwei Wahlperioden. In Demokratien wollen Parteien und Kanzler geliebt, zumindest aber gewählt werden. Das vertrug sich nicht mit unpopulären Maßnahmen. Sie wurden verschoben. Bis heute.

Die SPD ist 1998 mit ihrem Oppositionsdenken und der Last der Traditionen in die Regierung gestolpert. Sie hat Kohls seichte Schnitte ins soziale Netz schnell wieder geflickt, hat noch mehr Beton auf den Arbeitsmarkt geschüttet und steht nun vor dem Desaster jahrzehntelanger Verdrängungspolitik. Erst jetzt hat Schröder wirklich verstanden. Und seine Partei?

Wenn die SPD ihrem Vorsitzenden auf dem Reformpfad folgt, wird sie selbst eine Metamorphose durchlaufen. In der Außenpolitik hat Schröder seine Partei bereits zu einer Wende gezwungen, hat deutsche Soldaten in Regionen geschickt, von denen man früher nicht wusste, wo sie liegen. Diese erste Häutung der SPD fiel relativ leicht, weil sie nie eine urpazifistische Partei war.

Die zweite, die sozialpolitische Häutung nagt dagegen am Selbstverständnis der SPD. Sie war immer eine der Allmacht des Staates vertrauende Partei, predigte staatliche Fürsorge, sang das Lob der Verteilung. Was aber kann die Partei am Leben halten auf diesem langen Lauf von sich selbst, auf dem sie verhungern oder erfrieren kann? Da ist die Machträson, an die Schröder mit Rücktrittsdrohungen appelliert. Da ist aber auch die Einsicht, dass es nicht so weitergehen kann, die Angst, bald in den Erfolgen des alten Verteilungskampfes zu versinken.

Die Delegierten glauben Schröder gern, wenn er suggeriert, dass die Partei auf diesem Weg nur die Instrumente, nicht aber die Grundwerte ändern muss. Aber Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit sind keine zeitlosen Begriffe. Sollen sie ruhig glauben: Ein kleiner Selbstbetrug hat noch keiner Partei geschadet, solange er der Gesellschaft genützt hat. Der 1. Juni könnte zum Geburtstag der neuen SPD werden. Wenn sie denn will.

Markus Feldenkirchen

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