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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Mon BERLIN: Der innere Strom von Weihnachten

Wie ist Weihnachten wirklich? So hasserfüllt wie im Berliner Taxi? Oder so kitschig wie im Hollywood-Film? Weder noch.

Vor ein paar Tagen im Taxi nach Hause. Ich bin heiter gestimmt, und beschwipste Ideen sprudeln in mir wie die Bläschen in dem Glas Prosecco, den ich gerade mit Genuss geschlürft habe. Weihnachtsumtrunk, Smalltalk, Häppchen und ein berauschender Walzer von Flaschen. Ich bin auf das Kunstleder der Rückbank gesunken, die Augen wollen mir zufallen, und ich freue mich darauf, mich ein paar Minuten in der gelben Gondel meines Taxis wiegen zu lassen. Draußen Unter den Linden, Lichtergirlanden, ein Duft nach Schokolade und gerösteten Mandeln. Drinnen am Rückspiegel ein kleiner Weihnachtsbaum aus Deopapier, der Ärmste schafft es nicht, den herben Geruch nach kaltem Rauch und nassem Hund zu neutralisieren. Ein schmalziges Merry Christmas kommt aus dem Radio, und am Steuer sitzt einer dieser Berliner Taxifahrer, der sich, kaum dass er die Uhr angestellt hat, in einen kompakten Monolog über den tieferen Sinn unserer bescheidenen Gegenwart auf dieser tristen Erde stürzt. Oh je, ob ich das gerade jetzt verkrafte? Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für existentielle Fragen.

„Weihnachten, Fest der Liebe! Von wegen! Det is ja ein Witz, wa!“ Der Taxifahrer erzählt mir, wie er vor ein paar Jahren den Heiligen Abend verbracht hat „zum ersten und zum letzten Mal, det schwör’ ick Ihnen!“, als er die Familienmitglieder nach dem Weihnachtsabend nach Hause fuhr. „Det können Sie sich nicht vorstellen! Blanker Hass! Riesige Wut! Neid ohne Ende! Eine Atmosphäre zum Schneiden in meiner Taxe. Solche Ausbrüche, dass ick fast Angst hatte.“ Es folgt die Liste der am unerschöpflichen klassischen Rollenspiel der familiären Bitternis Beteiligten: der 40-jährige Sohn, der die Nabelschnur noch nicht durchtrennt hat und mit Dreitagebart und Militärparka angetreten ist, um seinen konservativen Vater zu schockieren. Der säuerliche Onkel, der die Zähne sonst das ganze Essen hindurch nicht auseinanderkriegt, weiß der Kuckuck, warum dieses Jahr. Das Paar kurz vor der Explosion, dazu die überdrehten Kinder, die Schwägerin auf Hundert und ihr unerträgliches Blag – und immer derselbe Refrain: „Nie wieder! Nie wieder! Den Onkel hätte ick an die Wand klatschen können! Dieser schwachsinnige Cousin mit seiner neuen Tussi! Ein Angeber! Meine Mutter kann ick nicht mehr ertragen! Und meine Schwiegermutter, o Gott, meine Schwiegermutter! Warum tu ick mir det alles an…“

„Ick bin im falschen Film, dachte ick!“ wettert der Taxifahrer, und ich frage mich: Was zum Teufel passiert am 24. Dezember unter den Weihnachtsbäumen dieser Stadt? Braut sich unter der polierten Oberfläche der höflichen Unterhaltung und zum verhaltenen Klappern des Bestecks auf dem Porzellan ein Orkan zusammen? Neid und Missgunst unter honigsüßem Lächeln. Unter dem pathetischen „Danke schön“ ein wütender innerer Strom: „Schon wieder das falsche Buch! Und ich kann es nicht umtauschen, sonst ist mein Bruder das nächste halbe Jahr eingeschnappt!“

Der wahre Film – und das beruhigt mich, kann ich Ihnen sagen! – der läuft an diesem Abend im Fernsehen, das ich eingeschaltet habe, um auf andere Gedanken zu kommen. Diane Keaton als exzentrische, aber sehr liebevolle Mutter, hat zum Jahresende die ganze Familie in ihr schönes Haus eingeladen: ihren Sohn, der kurz vor der Verlobung mit einer verklemmten Geschäftsfrau steht, ihr anderer Sohn, der dabei ist, mit seinem schwarzen Lebensgefährten ein Kind zu adoptieren, ihr alt gewordener Ehemann, der sich um sie sorgt, ein paar Hunde, ein Weihnachtstruthahn, und natürlich Schnee. In den amerikanischen Filmen fällt am Weihnachtsabend immer Schnee in verlässlich großen Flocken.

Nicht wie bei uns in Berlin, wo jedes Jahr ein hässlicher grauer Sprühregen herunterkommt. Amerika dagegen: weiße Weihnachten, Familienfrieden und himmlische Ruhe. Am Ende des Films, ein Jahr später, ist Diane Keaton an Brustkrebs gestorben. Jetzt schmücken ihre Kinder den Weihnachtsbaum. Alle Konflikte sind beigelegt. Die Paare haben sich neu gebildet, und nun passen sie perfekt zusammen. Ich ertappe mich, wie eine warme Träne sachte über meine rechte Wange rollt. Ich schäme mich ein bisschen für diese alberne sentimentale Anwandlung und versuche, mich zur Vernunft zu bringen: Das ist nicht das wirkliche Leben, jetzt reiß dich mal zusammen!

Aber wo ist der wahre Film? Wo ist das wirkliche Leben? Diese hasserfüllte geschlossene Gesellschaft, die mir der Taxifahrer beschrieben hat? Oder das Happy End, von dem Diane Keaton erzählt? Oder vielleicht eine Grauzone dazwischen, ein fauler Kompromiss. Darüber könnte man wirklich mal mit der Familie unter dem Berliner Weihnachtsbaum meditieren. Joyeux Noël … trotz alledem!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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