zum Hauptinhalt

Mon Berlin: Der Nörgler, ein französischer Prototyp

Der nörgelnde Franzose ist der Don Quichotte des Strandes. Das Problem ist, dass der Strandnörgler in zwei Wochen wieder strammstehen wird, in Anzug-mit-Krawatte gezwängt.

Wie viele menschliche Körper (Erwachsenengröße, normal gebaut, in liegender oder sitzender Position) passen auf eine Fläche von zehn Quadratmetern? Auf den ersten Blick hört sich das nach einer dieser absurden Rechenaufgaben an, die speziell für die Ferienhausaufgaben ersonnen werden. Ein unlösbares Rätsel, das den Kindern die Urlaubszeit vergällen soll. Aber nein, das ist das wirkliche Leben an den Stränden des Mittelmeers im August.

Ich stelle mir vor, dass unser Strand vom Flugzeug wie eine gigantische Patchwork-Bettdecke aussehen muss. Kilometerweit sind Badetücher aneinandergenäht. Ein gelbes, ein blaues, ein grünes Rechteck, darauf Hunderte von Körpern. Ein orgiastisches Spektakel. Wir sind zusammengerollt wie Föten, die Beine angezogen, die Knie bis zum Kinn angewinkelt. Wir machen uns ganz klein, um möglichst wenig Raum einzunehmen. Man muss aufpassen, dass man nicht dem Nachbarn zur Rechten einen Fußtritt gibt oder dem Nachbarn zur Linken die Zehen in den Bauch rammt. „Nicht laufen, Lili-Prune!“ („Lili-Pflaume!!!“ Kein Witz!!!) befiehlt eine genervte Mutter. Kein Baum weit und breit, nur ein paar Sonnenschirme kämpfen vergeblich gegen die Sonne im Zenit und werfen einen kümmerlichen blassen Halbmondschatten auf den Sand. Das Thermometer erreicht 40 Grad. Wenn ich sagen sollte, wie die Hölle auf Erden für einen Misanthropen aussieht, dann würde ich diesen Strand wählen! Ich frage mich, wie viel die Menschheit ertragen kann – und das auch noch mit Genuss, denn diese kompakte Masse hat sich freiwillig entschieden, ihre beiden Wochen Jahresurlaub zusammengepfercht hier zu verbringen: vom 15. Juli bis zum 15. August gibt es zwei Quadratmeter Lebensraum pro Nase. Im Juni liegt der Strand verlassen da, das Wasser ist frisch. Nach dem 20. August ist kein Mensch mehr zu sehen.

Mitte August hat man die einmalige Chance, den menschlichen Körper zu studieren: Zellulitis, Warzen, Narben, Verbrennungen, Aknekrater, bräunliche, behaarte Flecken. Man braucht gar kein Lehrbuch der Dermatologie, nur wenige Zentimeter entfernt defilieren die Unvollkommenheiten der menschlichen Haut vorbei. Ich versuche, mich nicht von meinem Roman ablenken zu lassen, der in den USA der 50er Jahre spielt, weit weg von diesem Frankreich des Jahres 2010, das sich um mich herum tummelt. Man tauscht Rezepte für Reissalat aus, man klagt über die gluckende Schwiegertochter, die keinen Schritt mehr ohne ihr Kind tut, man lässt die Eheprobleme von Colette und Jean-Marc Revue passieren. Der ganze Strand bekommt diese Vertraulichkeiten mit. Macht nichts. Man klagt über den Zustand der Straßen, die endlosen Staus am 15. August. Über das Wetter wird nicht gesprochen, denn in der Provence ist es immer schön, und man braucht ja auch noch ein Thema für den Rest des Jahres.

Schon bald schält sich aus dieser menschlichen Masse ein sehr französischer Prototyp heraus: der Nörgler. Schmerbäuchig, behaart und schlechtgelaunt bricht es aus ihm heraus, sobald er sich auf seinem Strandtuch niedergelassen hat. Meckern ist seine zweite Natur, sein innerstes Wesen, ein ständiger Unmut gegenüber dem, was er als die Ungerechtigkeiten des Lebens wahrnimmt. Der nörgelnde Franzose ist der Don Quichotte des Strandes. Wie das Michelin-Männchen sitzt er auf seinem himbeerroten Badelaken, in einer Hand ein Sandwich, in der anderen eine Zigarette, und lässt Tiraden gegen seine persönlichen Windmühlen los – „die Leute“. „Die Leute“, das ist ganz nebulös die Menschheit, vom Finanzbeamten bis zum Abteilungsleiter im Büro, vom Wohnungsnachbarn bis zum Präsidenten der Republik, der im Übrigen – „und das kann der ruhig hören, ja, der sollte mich mal hören … Ich hab keine Angst vor dem!“ (der Strandnörgler stößt das Kinn vor, ob er wohl gleich mit der Faust zuschlagen wird?) – in der Residenz von Carlas Familie Urlaub macht, zwei Buchten weiter, mit dem Boot sind es nur ein paar Kilometer. All diese Leute wird der Strandnörgler, notfalls mit Gewalt, auf den rechten Weg zurückbringen, dazu ist er fest entschlossen.

Das Problem ist, dass der Strandnörgler in zwei Wochen wieder strammstehen wird, in Anzug-mit-Krawatte gezwängt, die Augen niedergeschlagen, unterwürfig und servil vor seinem Abteilungsleiter, vor dem Finanzbeamten, und ich stelle mir lieber nicht vor, wie er seinen Rücken krümmen und wie sein Herz schlagen würde, sollte er dem Präsidenten der Republik gegenüberstehen. Dann wird er sich an den August am Strand erinnern und an diesen Moment einer berauschenden Befreiung, die mit dem herrlichen Sommer erloschen ist.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false