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Mon Berlin: Die Zartheit der Raubauze

Die Berliner Schnauze ist rau, blitzschnell, messerscharf. Der Humor der Berliner ist nicht politisch korrekt, welch ein Glück - und die Schnauze beschränkt sich nur auf die Berliner.

Butter Lindner, 16 Uhr. Eine vulkanartige Explosion zerreißt die nachmittägliche Stille. Eine Kundin, grün vor Zorn, die Stirn schwer und rachsüchtig, knallt eine Tüte auf die Ladentheke. Reklamation! Sie hat diesen leicht beschädigten Artikel am Teltower Damm gekauft und fordert nun ihr Recht in der Filiale Schöneberg. Um die derart Erzürnte zu besänftigen, müsste man sie mit den Fingerspitzen anfassen. Man müsste sich in den unterirdischen Labyrinthen der weiblichen Psyche zurechtfinden und obendrein auch noch die Entspannungstechniken bei einem widerstrebenden Subjekt perfekt beherrschen. Als letztes Mittel vielleicht eine ordentliche Dosis Barbiturate. Eine übermenschliche Anstrengung, der niemand gewachsen ist, da bin ich mir ganz sicher. „Weil zum Teltower Damm, zum Teltower Damm“, sagt die Klageführerin außer Atem. „Zum Teltower Damm gehe ich nie mehr!“

„Denen isset zu heiß da am Teltower Damm!“ Souverän tippt die Verkäuferin sich an die Stirn. Die ganze Warteschlange sieht plötzlich den Teltower Damm in tropischer Hitze, den Passanten rieselt der Schweiß hinunter, Fächer, Palmen, Dampf, der aus den Schädeln der Verkäuferinnen bei Butter Lindner aufsteigt. Teltower Damm: 35 Grad im Schatten. Das übrige Berlin: minus zwei Grad Celsius unter dem stahlblauen Himmel eines antarktischen Winters. Und die gesamte Kundschaft, allen voran die Klägerin, bricht in ein kräftiges Lachen aus. Wie ein Eimer frisches Wasser hat dieser Scherz die glühenden Kohlen des Zorns gelöscht. Der Ärger ist einfach weggewischt. Schwamm drüber! Es lebe der Teltower Damm!

Wie ich diese Berliner Schnauze liebe, der ich gleich bei meiner Ankunft in dieser Stadt verfallen bin. Rau, blitzschnell, messerscharf. Eine Schnauze ist kein Mund. Eine Schnauze beißt, sabbert, bellt, lässt nicht los, sobald sie ihre Zähne in die Wade versenkt hat. Man öffnet die Schnauze nicht für eine Liebeserklärung. Keine faden oder gefälligen Worte kommen aus ihr. Der Humor der Berliner ist nicht politisch korrekt – welch ein Glück.

Aber nie ist er zynisch, immer menschenklug, warm und handfest. Die große Zartheit des Raubauzes. Die Zerbrechlichkeit der Hartgesottenen. Die Großzügigkeit der vom Leben schlecht Behandelten. Wächst die Humorbegabung umgekehrt proportional zu den Widrigkeiten, die ein Volk durchlebt hat? Dann ließe die Berliner Schnauze sich durch die Dramen in der Geschichte der Stadt erklären. Mit dem großartigen Schutzschild ihrer Sprache schirmen sich die Einwohner gegen die Verzweiflung ab. Eine gewagte Interpretation, ich weiß, und die feine Einfühlsamkeit des Berliner Humors springt nicht gleich jedem in die Ohren, o nein! Bestimmt hatten Sie ihn noch nicht bemerkt. Aber denken Sie daran, wenn Sie in Zukunft die legendäre schlechte Laune des Busfahrers oder das muffige Gesicht der Kassiererin im Supermarkt erleben … im Grunde sind sie weichherzig!

Die Schnauze beschränkt sich nur auf die Berliner. Wenn Sie „Bayrische Schnauze“ googeln, landen Sie auf der Seite des Bayrischen Schnauzer-Klubs. Er wurde 1907 in München gegründet und widmet sich der Züchtung des sogenannten Münchener Bierschnauzers. Es geht vor allem um Maulkörbe, Welpen und Herrchen. Eine badische Schnauze ist ein Widerspruch in sich. Für meinen Geschmack ist der süddeutsche Humor zu langsam. Nach einigen Jahren in Berlin kann man sich an so etwas nicht mehr gewöhnen. Ungeduldig scharrt man mit den Füßen, während man auf die Pointe wartet. Und wenn sie endlich herangetrippelt kommt, ist man längst über alle Berge. In Berlin durchbohrt die Pointe Sie wie ein Pfeil, bevor Sie sich auch nur umgedreht haben. Sie erwischt Sie im Vorbeigehen, wirft Sie um und schleudert Sie zu Boden, verdattert, mit aufgerissenem Mund werden Sie von Lachstürmen geschüttelt.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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