zum Hauptinhalt

Mon BERLIN: Diese jungen Wilden riechen noch nach Milch

Seit einer Woche dringt aus meinem Küchenradio allmorgendlich die exaltierte Stimme eines Kommentators und verkündet mir, dass nach Guido Westerwelles Rücktritt ein Pack von „jungen Wilden“ sich bekriegt, um die Macht in der FDP an sich zu reißen. Junge Wilde … Als ich vor meiner Tasse Tee sitze, läuft mir ein Schauer über den Rücken.

Seit einer Woche dringt aus meinem Küchenradio allmorgendlich die exaltierte Stimme eines Kommentators und verkündet mir, dass nach Guido Westerwelles Rücktritt ein Pack von „jungen Wilden“ sich bekriegt, um die Macht in der FDP an sich zu reißen.

Junge Wilde … Als ich vor meiner Tasse Tee sitze, läuft mir ein Schauer über den Rücken. In der Küche riecht es plötzlich nach Marihuana und Grenzübertretung. Ich stelle mir eine Horde junger Männer vor, Haare im Wind, Zorn in den Fäusten, Rebellion im Herzen. Sie schießen durch die Luft, sie stürzen sich auf die Zentrale der FDP. Sie reißen die Türen aus den Angeln, sie kämpfen mit Klauen und Zähnen um Guido Westerwelles leeren Sessel. Junge Wilde – was für ein Etikett! Was für ein vielversprechender Begriff! Ich sehe James Dean. Ich sehe Arthur Rimbaud. Ich sehe eine Gruppe junger Maler, mit großen schnellen Pinselstrichen arbeiten sie gegen den Strom. Mein Herz entbrennt beim Gedanken an diese zornigen jungen Männer. Sollte mit einem Mal der Wind des Wahnsinns die öden Ebenen der deutschen Politik peitschen? Woodstock in der Zentrale der FDP? Joints am Kabinettstisch? Werden schlampig gekleidete, langhaarige Typen die deutsche Gesellschaft erschüttern, alle Tabus brechen? Endlich die Revolution, die in Deutschland niemals stattgefunden hat! Endlich Aufruhr gegen das Establishment! Was für ein Wirbel! Was für ein Rausch!

Philipp Rösler, Christian Lindner sind die Startblöcke, fährt der Kommentator fort. Ein Schlag in die Magengrube. Mir bleibt die Luft weg. Mein schöner Enthusiasmus fällt in sich zusammen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gepiekst hat. Plopp. Aus für die Illusionen. Hier kommt Philipp Rösler.

Philipp Rösler, ein junger Wilder? Diese Assoziation wäre mir zugegeben nicht in den Sinn gekommen. Nicht mal in einem Anfall von Verwirrung. Philipp Rösler, jung und wild, das ist ähnlich surrealistisch wie Jimi Hendrix als perfekter Schwiegersohn. Diese Herren von der FDP, mit ihren gutgebügelten Hemden, ihren frisch rasierten jungenhaften Gesichtern. Sie riechen nach Seife und Karriereplänen. Sind sie jung? Vielleicht, wenn man sich auf die Biologie beschränkt. Und wild?

Gut, Philipp Rösler und seine Gefährten eignen sich für die Leitung der liberalen Partei sicher besser als Jimi Hendrix. Aber was ich nicht mag, das ist der Missbrauch der Sprache, frühmorgens, in der Zeit von Tee und Toast. Ich mag es nicht, wenn man Dinge und Menschen in unangemessene Wörter kleidet, in Wörter, die nicht zu ihnen passen, die die Realität verfälschen, verschönern, herausputzen. Wörter, die rechtschaffene, aber reizlose Parteikader in Figuren aus einem existenzialistischen Roman verwandeln. Ja, ich fühle mich hereingelegt. Der Tag hat gerade erst angefangen, und schon macht diese Missachtung mich wütend.

Im Übrigen, wie Sie vielleicht bemerkt haben, wird dieser Ausdruck nicht zum ersten Mal betrügerisch verwendet. Erinnern Sie sich nur an den Krieg um die Nachfolge von Helmut Kohl. Roland Koch und Christian Wulff, ja, Sie haben ganz richtig gelesen: Roland Koch und Christian Wulff (!!) wurden ebenfalls als Junge Wilde bezeichnet. Welche Verachtung für einen präzisen Umgang mit der Bedeutung von Wörtern! Welche Geringschätzung für den Zorn der Jugend! Diese Herren mit ihren beginnenden Glatzen und ihren etwas wabbeligen Bäuchen, noch atemlos, weil sie die Sprossen der Karriereleiter in ihrer Partei eine nach der anderen hinaufgestiegen sind – wie kann man es wagen, diese blassen und nicht mehr ganz so jungen Männer Junge Wilde zu nennen?

Vor ein paar Tagen habe ich ein schönes Wort von Françoise Sagan gelesen: „Junge Männer, die noch nach Milch duften, sollten sich nicht in die Arme von Frauen verkriechen, die nach Scotch riechen.“ Und plötzlich erfasst mich eine Nostalgie nach denen, die nichts mehr zu verlieren haben, die sich vor nichts mehr fürchten. Deshalb würde ich den Ausdruck gern korrigieren. Was würden Sie zu Alten Wilden sagen? Passt viel besser, oder?

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false