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Mon BERLIN: Emma schlägt Charlotte!

Unmöglich, die Ohren vor dem überwältigenden Medienkrach der vergangenen Wochen zu verschließen: Charlotte Roche auf dem Cover des „Stern“, Charlotte Roche als Aufmacher aller Feuilletons, Charlotte Roche, wie sie von Talkshow zu Talkshow flattert, Charlotte Roche ganz oben auf der Bestsellerliste installiert, Charlotte Roche, eine nervtötende Fliege, die von morgens bis abends durch die Gespräche rotiert … Unmöglich, sie zu ignorieren. Fast fühlt man sich schuldig, dass man sich nicht sofort in seine Buchhandlung stürzt, um „Schoßgebete“ zu kaufen.

Unmöglich, die Ohren vor dem überwältigenden Medienkrach der vergangenen Wochen zu verschließen: Charlotte Roche auf dem Cover des „Stern“, Charlotte Roche als Aufmacher aller Feuilletons, Charlotte Roche, wie sie von Talkshow zu Talkshow flattert, Charlotte Roche ganz oben auf der Bestsellerliste installiert, Charlotte Roche, eine nervtötende Fliege, die von morgens bis abends durch die Gespräche rotiert … Unmöglich, sie zu ignorieren. Fast fühlt man sich schuldig, dass man sich nicht sofort in seine Buchhandlung stürzt, um „Schoßgebete“ zu kaufen.

Auf der einen Seite zerrt ein merkwürdiges schlechtes Gewissen an mir: Man müsste mindestens einen Blick in dieses Buch werfen, um mitreden zu können. Schließlich ist es ein echtes gesellschaftliches Phänomen. Ein Leitartikelthema. Gibt dieser ungeheure Erfolg vielleicht Auskunft über die Mentalität der Deutschen, über die geistige Verfassung einer Generation, den Zeitgeist einer Epoche? Auf der anderen Seite die Rebellion: Muss man immer mit dem Strom schwimmen? Seit wann garantiert der Bestsellerstempel Qualität? Wie viele talentierte Schriftsteller verkaufen nur ein paar Tausend Exemplare? Wie viele kleine literarische Schätze werden überhaupt nicht wahrgenommen? Das Leben ist zu kurz, um es mit schlechter Lektüre zu vergeuden. Muss man immer mitreden? Kann man nicht still sein, lächeln und abwarten, dass das Gesprächsthema wechselt? Und wenn ich jetzt nachgebe … Auf Charlotte Roche folgt eine andere Skandalnudel. Garantiert! Man darf auch Widerstand leisten, verdammt noch mal! Auf keinen Fall, so sagte ich mir kämpferisch, lasse ich mich von diesem konformistischen Zwang unterbuttern.

Vor meinen Augen haben sich den ganzen verregneten Sommer lang zwei Frauen duelliert: Die eine ist schrill, tätowiert, angesagt. Sie ist das Idol unserer Zeit. Die andere, eine bürgerliche Gattin, lebt melancholisch, unglücklich, in einem düsteren Haus in der französischen Provinz. Welche soll ich lesen? Charlotte Roche oder Madame Bovary? Ja, ich weiß, diese Gegenüberstellung ist unwürdig. Flauberts unwürdig.

Seit vielen Jahren begleitet Madame Bovary mein Leben. Kennengelernt habe ich sie mit 16 Jahren. Mit 18, dann mit 20 Jahren bin ich ihr wiederbegegnet. Danach haben wir uns nicht mehr so oft getroffen. Alle drei, vier Jahre besuche ich sie. Jedes Mal ein neues Entzücken, eine Wiederentdeckung. Warum sollte ich auf dieses Rendezvous verzichten? Warum die ewige Emma mit einer Eintagsfliege betrügen?

Arme Emma, so altmodisch und so blass – sie ist in meinem Bücherregal kaum wahrzunehmen, während Charlotte Roche sich in den Schaufenstern aller Berliner Buchhandlungen breitmacht. Dabei war auch Madame Bovary im Jahr 1857 ein Skandal. Flaubert wurde wegen „Verstoßes gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“ angeklagt. Man warf ihm seinen „vulgären und häufig schockierenden Realismus“ vor. Doch er wurde freigesprochen, und der Roman war schon damals sehr erfolgreich.

Heute nimmt niemand mehr Anstoß. Die Toleranzschwelle der bürgerlichen Moral liegt nur noch wenig über null. Diejenigen, die sich damals über eine angedeutete, aber nicht explizit beschriebene leidenschaftliche Hingabe empörten, „eine Kreuzundquerfahrt ohne Ziel und Plan“ hinter den zugezogenen Vorhängen einer Droschke, „verschlossen wie ein Grab“, sie würden nach den ersten Zeilen der „Schoßgebete“ einen Herzanfall erleiden und tot umfallen.

Die Kunst der Ellipse ist nicht gerade Charlotte Roches Stärke – wenn ich nur das Interview im „Spiegel“ lese, weiß ich alles, aber auch wirklich alles, bis zum letzten Winkel von Körper und Seele. Nicht ein Millimeter von Intimität und nackter Haut bleibt versteckt.

Wer wird in 154 Jahren noch Lust haben, Charlotte Roche zu lesen? Während ich dies schreibe, sehe ich Emma Bovary, die mich von ganz oben im Bücherregal triumphierend anschaut. Wir treffen uns wieder, scheint sie mir zu sagen. Bald sind Herbstferien, und Charlotte Roche kommt nicht mit. Definitiv nicht!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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