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Mon BERLIN: Gesicht faltig, Haut grau, Wangen schlaff – Mick Jagger

Pascale Hugues, Le Point

Zu Füßen einer romanischen Basilika im tiefsten Bayern liegt ein alter, ganz unter Moos begrabener Friedhof. Auf dem Grabstein eines vor Jahrhunderten verstorbenen Großbürgers sitzt ein kleiner Engel mit rundem Po und dicken Backen und pustet Seifenblasen. Umgeben ist er von einer in den Stein gravierten Girlande aus Totenschädeln und Skeletten. Zerbrechlichkeit des Lebens. Der allgegenwärtige Tod streift uns, und in unserer Unverfrorenheit vergessen wir Heutigen ihn einfach. Dabei ist das Leben nur eine Seifenblase. Vergänglich, zart, flüchtig. Plopp … Und jäh ist unsere kurze Reise beendet.

Bayern, am Tag nach Aschermittwoch. Der Friedhof ist verwaist. Am gleichen Abend wird die Berlinale feierlich eröffnet. Der Marlene-Dietrich-Platz, ein hochsommerlicher Strand an der Côte d’Azur. Schwarz von Menschen. Nur dass der Himmel grau, das Wetter kalt ist. Auf dem roten Teppich schlagen die Rolling Stones ihr Rad, vier Pfauen mit ramponierten grauen Federn. Welcher Schock! Horror! Katastrophe! Sie sind kaum zu erkennen. „Aber wie alt sie geworden sind!“, entsetzt man sich. Es ist erschütternd! Keith Richard mag seinen Schädel noch so bemüht unter einem Piratentuch verstecken – die kahlen Stellen, das flusige Haar sind nicht zu übersehen. Mick Jaggers Gesicht ist aus Falten modelliert, die Haut ist grau, die Wangen schlaff, und wenn er auf der Bühne des Berlinale-Palastes sagt, es sei zu warm und er würde am liebsten sein Hemd ausziehen, da, sofort, vor unseren Augen, beherrscht man sich nur mit Mühe, um ihm nicht zuzurufen: „Nein, Mick, bitte nicht, bleib angezogen!“ Wir, die wir jahrelang vom Anblick seines haarlosen Oberkörpers geträumt haben, die wir auf die Bühne gerast wären, um sein schweißgetränktes Hemd aufzufangen.

Seien wir doch mal ganz ehrlich. Dass die Rolling Stones vom Alter hart geschlagen sind, ist uns ziemlich egal. Was kümmert es uns, dass sie alte Beaus geworden sind, die ohne viel Erfolg versuchen, wie junge Adonisse auszusehen. Wirklich aus der Fassung bringt uns der Spiegel, den sie uns vorhalten. In ihrem Gesicht erkennen wir plötzlich, dass die Zeit auch für uns nicht stehen geblieben ist. Das ist es, was wehtut. Heute Abend tritt jeder seine eigene sentimental journey ins Land der Jugend an. Ah, das Konzert, endlich, nachdem man Monate um eine Eintrittskarte gekämpft hat. Ah, der erste Kuss von Susi im Teenie-Zimmer, während die in schwarzes Vinyl gekleidete Angie sich auf dem Plattenteller drehte und drehte wie verrückt. Ah, der Abiball, der für viele, zugekifft bis oben hin, erst am frühen Morgen im Park endete, in der kleinen Provinzstadt, wo sie zwischen Sparkasse und italienischer Eisdiele aufgewachsen waren. Ein heftiger nostalgischer Windstoß fegt über den Marlene- Dietrich-Platz. Diese vier grotesken und dabei rührenden Herren sind die Zeugen unseres Lebens. Der unwiderlegbare Beweis dafür, wie schnell die Jahre vergangen sind. Wie die steinernen Totenschädel und die Skelette auf dem Friedhof erinnern die alt gewordenen Rolling Stones uns an den umherschleichenden Tod. Und daran können weder die Lichter der Berlinale noch die Piratentücher etwas ändern.

Alice Cooper ist 60 Jahre alt. Juliette Gréco, die Muse von Saint Germain des Prés, ist 80! Ich habe Michel Piccoli in einem Fernsehfilm gesehen und zehn Minuten gebraucht, um ihn zu identifizieren! Ist er es nun oder nicht? Aber wie dick er geworden ist, Michel Piccoli, der große Verführer … Alle diese Leute dürften eigentlich nicht altern. Oder sie müssten es so machen wie Greta Garbo und Marlene Dietrich. Bei geschlossenen Gardinen in ihren Wohnungen vergraben, von der Welt abgeschnitten. Oder wie Marilyn Monroe und Romy Schneider: jung und ohne Falten sterben. Oder wie Catherine Deneuve und Charlotte Rampling, die immer schöner werden. Jedenfalls müssten sie es schaffen, uns das zu ersparen. Und es uns ermöglichen, dass wir unsere Illusion von Jugend bewahren. Selbst wenn zu Füßen einer bayrischen Basilika ein pummeliger Engel Tag für Tag weiter seine Seifenblasen pustet.

Aus dem Französischen von

Elisabeth Thielicke.

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