zum Hauptinhalt

Mon BERLIN: Inmitten der Menge thront die Chinapfanne

Vergangene Woche bei einer Lesung in Berlin. Eine Hand hebt sich.

Vergangene Woche bei einer Lesung in Berlin. Eine Hand hebt sich. Eine dringende, grundsätzliche Frage: Vorigen Sommer waren wir in Frankreich bei der Tour de France. Stundenlang haben wir den Rennfahrern zugeschaut. Und was uns wirklich gewundert hat: nichts zu essen am Straßenrand. Dabei waren wir in Frankreich! Nicht einmal eine Chinapfanne! Die Dame in der fünften Reihe fordert eine Meinung.

Und dann sitzt man da. Da oben, einsam auf dem Podium. Der Mund offen wie eine Forelle, die am Grund eines Teiches Luftblasen macht. Das Gehirn sucht mit Tempo 100 nach einer Auskunft. Denn etwa 60 Ohrenpaare erwarten eine subtile, cartesianische Argumentationskette. Bin ich denn nicht Expertin für Frankreich? Interpretin seiner geringsten Verwirrungen? Imstande, noch die absurdeste Frage zu beantworten? Wie kann man die Unterlassung der Chinapfanne deuten? Woher diese unverzeihliche Geringschätzung der zahllosen hungrigen Mägen … und der aus Berlin angereisten Gourmets? Die Wörter bilden einen Stau auf meinen Lippen. Ich stammele ein paar fast unhörbare Sätze. Die Franzosen gehen zum Essen nach Hause. Jeder bringt sein Camembert-Sandwich mit. Ich reihe die absurdesten Vorurteile aneinander. Ich lächele dümmlich. Das Wichtigste ist es, dass ich mich so schnell wie möglich aus dieser Sackgasse befreie. Dass ich auf keinen Fall die so wohlwollenden Zuschauer anschreie: Die Chinapfanne, einfach grauenhaft! Lassen Sie doch die Chinapfanne da, wo sie ist, Madame, in Berlin! Wir gehen zur nächsten Frage über. Ich schwitze auf meinem roten Sofa.

Als ich spät am Abend einen Rest himmlischer Drosselpastete in kleinen Häppchen und ein kleines Glas Sancerre zu mir nehme, denke ich noch einmal über die Frage nach, auf die ich keine Antwort wusste.

Die Chinapfanne, diese Berliner Institution, dieser bei allen Volksversammlungen unvermeidliche Kessel. Politische Meetings, Anti- Anti-Atom-Demos, Love- und Schwulenparade, Jahrmarkt, Karneval der Kulturen, Schulfest: Die Chinapfanne ist immer dabei und wird sicher bald den Papst im Olympiastadion empfangen. Sie thront inmitten der Menge: Ihr Geruch nach schlechtem Öl setzt sich in der Kleidung fest, in den Haaren, auf der Haut. Man braucht sehr lange, um die Chinapfanne zu vergessen. Sie überfällt den Körper. Sie verfolgt einen bis ins Bett.

Seit 20 Jahren lebe ich in Berlin, und ich muss Ihnen ein Geständnis machen: Ich habe noch nie Chinapfanne gegessen. Noch schlimmer: Ich habe keine Ahnung, aus welchen Zutaten sie gemacht wird. Natürlich habe ich einen mehr als skeptischen Blick in die Schüssel riskiert, in der sie ruht, meist seit mehreren Stunden. Ich habe einen grauen klebrigen Brei gesehen, eine heterogene Masse aus kaum identifizierbaren Fetzen.

Die Chinapfanne: Ein Betonklotz, der Ihnen den Magen zukleistert, garantiert!, lässt mehrere Tage keinen Hunger aufkommen. Und doch, was für ein Betrug! Die Chinapfanne hat, anders als ihr Name suggerieren könnte, nichts mit der so raffinierten, so zarten, so duftenden chinesischen Küche zu tun. Ich bin sicher, dass man in Peking keine Chinapfanne isst. Die Chinapfanne, eine gewöhnliche Bratpfanne, ist eine rein Berliner Kreation, proletarisch, funktional, effektiv. Bodenständig, wie sie ist, erfüllt sie perfekt ihre Aufgabe: Sie macht satt.

Ich stelle mir vor, was passieren würde, wenn die Chinapfanne plötzlich bei anderen populären Zusammenkünften in Europa auftauchen würde. Lassen wir die Chinapfanne einfach verreisen.

Zuerst könnte sie auf dem minzgrünen Rasen von Glyndebourne, dem Mekka der Opernliebhaber im ländlichen Sussex, erscheinen. Wie eine fliegende Untertasse von einem anderen Planeten würde sie zwischen den Picknickkörben, den Gurkensandwiches, den Erdbeeren mit Sahne, den Champagnerflöten, den Puccini-Arien und den Strohhüten landen. Der proletarische Sendbote aus Berlin in einem Tempel der englischen Upper Class. Welch surrealistischer Anblick. Oh, dear! würden die Damen rufen und die Nasen vor Abscheu kräuseln. Oh, dear!

Danach könnte sie sich am Abend des 14. Juli auf einem Dorfplatz in der Provence niederlassen, nach dem Pastis, direkt vor dem Feuerwerk. Stellen Sie sich die Entsetzensschreie vor! Um Gottes willen! Peuchère! Zwischen Ratatouille, Crêpes Suzette, Rede des Bürgermeisters und Marseillaise. Diese unverdauliche Invasion aus Deutschland! Hilfe!

Nein und nochmals nein! Die Chinapfanne lässt sich nicht exportieren. Sie muss in Berlin bleiben. Und nie darf sie sich über die Ufer der Spree hinauswagen! Sie würde vermutlich an der Grenze zurückgewiesen werden! Betreten des Hoheitsgebietes verboten. Und das ist richtig so!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false