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Mon BERLIN: Liebestöter Unterhemd

Das Unterhemd enthüllt knackige Muskeln, gebräunte Samthaut. Manchmal hängt ein Medaillon oder ein Gepardenzahn an einem Lederband auf der behaarten Brust. Manchmal ist am Schulterrand ein Dschungel quadrat, eine dicht-bunte Tätowierung, eingraviert.

So erscheint das Unterhemd in den Modejournalen und in den Szenebars der Motzstraße: viril, unendlich sexy, un widerstehlich. Plötzlich ist das gute alte Unterhemd auf den Namen Body oder Underwear getauft worden. Es duftet nach Abenteuer, nach einem Hauch von Erotik. Es ist das Äquivalent zur femininen Reizwäsche.

In den Straßen von Berlin dagegen ist das Unterhemd eine ganz andere Geschichte. Rasch prallt man gegen den harten Beton der Realität. Fort sind die Wünsche vom Abenteuer. Fort sind die erotischen Träumereien. In der schneebedeckten deutschen Hauptstadt hat das Unterhemd nichts Verführerisches, nein, wirklich nicht! Haben Sie schon bemerkt, dass es sich in der derzeitigen Kälte allmählich der Körper der Berliner bemächtigt?

Schauen Sie genau hin! Unter durchsichtigen Hemden erkennt man seine Konturen, das Relief des Feinripps, die Zeichnung der Säume und Nähte. Und – o welche Enttäuschung! – man erahnt die traurige Geografie der winter lichen Körper: der schlaffe Bauch, die Muskeln so lasch wie geplatzte Ballons. Das Unterhemd umhüllt einen kahlen Brustkorb, eine Haut blass wie Sauermilch. Vom häufigen Waschen ist es oft grau und ausgeleiert. Ein Liebes töter! Vergessen sind sie, die Bodys der Motz. Ja, werden Sie sagen, aber die sibirische Kälte, der tückische Wind, der unter den Pullover dringt und die Haut gefrieren lässt … da kommt es nicht mehr auf Eleganz und Klasse an, sondern man muss praktisch denken und das Unterhemd anziehen, sobald man aus dem Bett springt! Da haben Sie sicher recht.

Im Französischen trägt das Unterhemd einen kessen Namen: Es wird petit Marcel genannt. In Frankreich ist Marcel der altmodische Name par excellence. Bei uns war ihm keine Renaissance vergönnt wie in den neuen Ländern, wo er wie Yvonne, Jacqueline oder Chantal für französische Exotik und Leichtigkeit steht.

Die Franzosen nennen ihre Söhne lieber Enzo, Theotim oder Corentin. Das ist so schick! Marcel dagegen: Der Name ist gerade noch gut genug für ein verblasstes Unterhemd. Marcel riecht nach proletarischem Kiez, nach dem Frankreich der 30er Jahre, dem Schweiß der Fabriken und dem Glas Rotwein an der Theke der Bar-Tabac. In der Provence spielt Marcel im Schatten hoher Platanen Boule. Marcel fährt einen schweren Lastwagen, die Gitane zwischen den Lippen. Und gewiss trägt Marcel einen petit Marcel.

Übrigens frage ich mich, ob Pagnol und Proust, die Patrizier der französischen Literatur, unter dem Hemd einen petit Marcel versteckten, Ton in Ton mit ihrem Vornamen? Die Intellektuellen unserer Zeit lassen sich bestimmt nicht zu dieser Art Wäschevulgarität herab. Schon vor langer Zeit haben sie das Unterhemd gegen ein T-Shirt eingetauscht, eines im vorgeschriebenen Schwarz. Das schwarze T-Shirt ist der petit Marcel der linken Denker. Schwarz wie das existenzialistische Grübeln, schwarz wie die gedanklichen Windungen, schwarz wie: Ich will auf keinen Fall aussehen wie ein Spießer, hab aber keine Lust, im Winter zu frieren.

Auch die Outdoor-Sportler bemühen sich mit aller Kraft, dem wenig schmeichelhaften Ruf des Unterhemds zu entgehen. Man übertrifft den Skisprungrekord nicht im petit Marcel! Die Funk tionswäsche, sagt das Etikett meines Skiunterhemds, vollbringt dieses Wunder der Physik: Es hält die Wärme. Es transportiert den Schweiß nach außen. Die Luft zirkuliert nur in einer Richtung. Die Kälte wird in einer anderen blockiert. Von diesem ganzen Hin und Her wird mir schwindlig. All diese thermoaktiven Fasern, diese hydrophilen Oberflächenstrukturen, diese Kunstfasern auf dem neuesten Stand der Technik. Wenn doch der Frühling schon da wäre – und man sich wieder leicht kleiden könnte!

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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