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Mon BERLIN: Montaigne, Handke, Rilke – und ich

Haben Sie schon bemerkt, dass in jedem Ihrer Bücher ein zweites Buch lebt? Das erste, dessen kartonierten Einband Sie in den Händen halten, katapultiert Sie aus sich selbst hinaus in ein anderes, ein fiktives fremdes Leben.

Haben Sie schon bemerkt, dass in jedem Ihrer Bücher ein zweites Buch lebt? Das erste, dessen kartonierten Einband Sie in den Händen halten, katapultiert Sie aus sich selbst hinaus in ein anderes, ein fiktives fremdes Leben. Das erste ist ein Roman voller Unbekannter, die Sie im Lauf der Seiten entdecken werden. Aber daneben gibt es ein zweites Buch. Es versteckt sich im ersten. Es wird Sie zu sich selbst zurückbringen. Zu Ihrer eigenen Geschichte. Es ist Zeuge Ihres – häufig ganz geheimen – Intimlebens. Auf seinen Seiten finden Sie Ihre Familie wieder, Ihre erste Liebesgeschichte, Ihre Studienzeit, Ferien am Strand, herzzerreißende Abschiedsszenen.

Gestern habe ich Montaignes „Essais“ durchgeblättert. Ein kaputt gelesenes Buch mit trockenen, vergilbten Seiten, das ich letzten Winter in der Bibliothek meiner Eltern aufgespürt habe. Es roch nach der Wohnung meiner Kindheit. Eine Mischung aus kaltem Tabak, Bohnerwachs, frischen Blumen auf dem Kaminsims. Aus großer Tiefe stieg plötzlich ein ganzes früheres Leben an die Oberfläche dieses strahlenden Sommers. Da war auch dieser kleine Marcel Pagnol, von der Feuchtigkeit gewellt und noch vom Vanillegeruch der Sonnenmilch getränkt.

Auch wenn Lichtjahre zwischen meinem Berliner Leben und diesen Ferien an der Côte d’Azur liegen, so ist der Duft des Mittelmeerstrandes doch nie ganz verflogen. Und in Paul Claudel fand ich die Stunden und Aberstunden von Langeweile und stumpfer Büffelei meines Studentenlebens. Striche in mehreren Farben haben ein Lesegitter über den armen Mann gelegt. Wir waren 18 Jahre alt, in Frankreich herrschte die Diktatur des Strukturalismus. Wir waren stolz und pedantisch, und wir wussten noch nichts vom wahren Leben. Aber vor allem haben wir gewissenhaft gelernt, Paul Claudel zu hassen. Wir haben uns konsequent geweigert, ihn danach jemals wieder zu lesen.

Und so liegt Claudel ungeliebt in meinem Bücherregal. Ich habe den Gemarterten nur deshalb noch nicht weggeworfen, weil er als Zeuge der Anklage für die Missetaten des französischen Literaturunterrichts dient. Und ich bin mit meiner Rache an ihm noch nicht fertig.

Zwischen dem ersten und dem zweiten Buch entspinnen sich seltsame, manchmal sogar unsinnige Assoziationen: Peter Handke, das ist ein langer eisiger Winter in London auf einem roten Sofa mit Mikis Theodorakis, endlos aus einer alten Stereoanlage. Gabriel García Márquez steht für ein Hotelzimmer in Edinburgh und einen Teller Clubsandwich, den mir der Zimmerservice gebracht hat, damit ich mich auf keinen Fall auf Restaurantsuche begeben und mich keine Sekunde von dieser Geschichte trennen muss. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge bedeuten ein von der nebligen Heide verschlucktes Haus auf einer Insel der Äußeren Hebriden. Die streng calvinistischen Bewohner beachten den Sabbat. Zwei Tage lang verließ kein Schiff, kein Flugzeug die Insel. Es blieb nur dieses bedrohliche Haus, eine totale Einsamkeit und ein Feuer im Kamin. Rilke und ich. Vor meinen Augen laufen keine präzisen Erinnerungen ab, sondern eine Stimmung taucht plötzlich auf und überflutet die Gegenwart, verschwommen, fast schmerzhaft. Wesen und Dinge für immer verschwunden. Dieser Flashback dauert nur ein paar Sekunden.

Übrigens ist es sehr unklug, seine Bücher zu verleihen. Und man sollte sehr vorsichtig sein, wenn man ihnen seine Geheimnisse anvertraut. Bücher sind sehr indiskret. Sie erzählen dem nächsten Leser alles, was Sie ihnen zugeflüstert haben. Zwischen ihren Seiten verbergen sich glühende Widmungen, Liebesbriefe, getrocknete Blumen, eine Fahrkarte, eine Eintrittskarte für ein Museum, eine Restaurantquittung. Leicht fetischistische Reliquien von großen und kleinen Ereignissen des Lebens. In einem Buch sind sie vor Blicken und Aufdringlichkeiten gut geschützt … denkt man, wenn man sie hineinlegt. Und dann vergisst man sie. Bis zu dem Tag, wo eine Freundin ganz erregt fragt: „Sag mal, wer war eigentlich Jeremy? Ich hatte keine Ahnung. Du hast mir nie von ihm erzählt!“

Die größte Gefahr aber: Bücher beherbergen Ihre Gedanken, Ihre Sorgen, Ihre Unsicherheiten und Ihre Ängste … manchmal sogar Ihre wildesten Phantasien. Die zustimmend unterstrichenen Wörter, die mit dem Fingernagel markierte wichtige Passage, die eingeknickte Seite – sie alle offenbaren, dass dieser Satz eine wichtige Phase Ihres Lebens begleitet, Ihnen beim Erwachsenwerden geholfen hat. Diese Bücher darf man niemals verleihen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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