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 Pascale Hugues schreibt für das französische Magazin "Le Point".

© Tsp

Mon BERLIN: Schamgefühle

Was bleibt noch übrig, wenn Millionen TV-Zuschauer ins Schlafzimmer gekrochen sind? Freigeister und Rebellen werden im Fernsehen nicht mehr geduldet.

Chapeau, Madame Riemann! Gestern Abend habe ich mir wie schon Millionen andere auf Youtube die Sendung angesehen, die seit einer Woche die Blitze des öffentlichen Zorns auf Ihr Haupt zieht. Ich wollte wissen, welcher Anstößigkeit Sie sich schuldig gemacht hatten. Och, dachte ich, noch so eine durchgeknallte Zicke, die auf einem roten Sofa die Diva spielt und den armen eingeschüchterten Moderator zur Schnecke macht.

Nach einigen Minuten befiel mich eine unkontrollierbare physische Reaktion: Mit Schweißperlen auf der Stirn igelte ich mich auf meinem Sessel ein und klammerte mich an den Armlehnen fest. Nur einen Wunsch hatte ich: Bitte, lass es bald aufhören! Bitte den Nachspann von „DAS!“ (man beachte das dreiste Ausrufezeichen, das schon alles sagt) und dann die Befreiung, endlich.

Es war ein bisschen wie die Beklemmung, die ich als kleines Kind empfand, wenn einer der beiden staatlichen Sender in Frankreich Catherine Deneuve und Alain Delon zeigte, wie sie sich mit gespitzten Lippen einen keuschen Kuss in Schwarz-Weiß gaben. Peinlich! Lieber vergrub ich mein Gesicht in den Händen, als mir das anzuschauen.

Ja, ich habe mich fremdgeschämt. Arme Madame Riemann! Welche Folter auf Ihrem roten Sofa! Der Moderator, stumpf, selbstverliebt, stellt eine absurde Frage nach der anderen, und ohne Sie um Ihre Erlaubnis gefragt zu haben, steigt er mit der Kamera die Treppe im Haus Ihrer Kindheit hinauf und dringt sogar in Ihr Jugendzimmer ein.

Zurück ins Studio. Katja Riemann ist leichenblass, sie verschränkt die Arme vor dem Körper, als wolle sie sich vor dem brutalen Angriff auf ihre Privatsphäre schützen. Der Moderator versteht überhaupt nichts mehr. „Ich hätte mich gefreut“, sagt er. Karteikarte. Nächste Frage.

Madame Riemann, Sie haben versucht, sich zu wehren. Ich bewundere Ihre verzweifelten Versuche, die Situation zu retten und dabei freundlich zu bleiben. An Ihrer Stelle hätte ich vor Zorn geschrien. Übrigens tue ich das. Weil ich allein in meinem Arbeitszimmer bin und nichts zu verlieren habe. Was für ein Kretin, dieser Moderator!

Es gibt berühmte Beispiele von Menschen, die sich dem Fernsehen nicht unterworfen haben. Der amerikanische Schriftsteller Charles Bukowski, eingeladen von der renommierten Literatursendung „Apostrophes“, riss sich das Mikro ab, stand auf und verschwand sturzbetrunken von der Bühne. Bye! Bye! Ciao! Au revoir! riefen die anderen Gäste ihm vergnügt nach, und die Diskussion ging ruhig weiter. Und auch Serge Gainsbourg verweigerte sich dem Medienzirkus grundsätzlich. Oft erschien er vor der Kamera mit trüben Augen, unrasiert, die Gitane im Mundwinkel. Und oft bekam er einen Wutanfall. Niemals wurde ihm das übelgenommen. Ob rasiert oder nicht, unflätig oder nicht – Gainsbourg bleibt ein monstre sacré des französischen Chansons.

Die Zeiten haben sich wirklich geändert. Ich mag mir die gnadenlose Hinrichtung nicht vorstellen, hätte Katja Riemann es gewagt, sich mit einem Schulterzucken zu erheben und den Schwachkopf sitzen zu lassen. Denn wehe demjenigen, der in dieser Epoche der Intimitätstyrannei das Recht auf Schamgefühl fordert. La pudeur, das Schamgefühl, ist ein sehr schönes Wort, ein aus der Mode gekommenes Zeugnis eines vergessenen Wertes. Was bleibt davon noch übrig, wenn Millionen TV-Zuschauer in Ihr Schlafzimmer gekrochen sind? Freigeister und Rebellen werden im Fernsehen nicht mehr geduldet.

Sehen Sie sich doch nur mal die Promis an, wie sie allabendlich die Talkshow-Couch bevölkern: brav, glatt, lächelnd, adrett, vor allem aber bereit, Privatleben und Seele bis in den letzten Winkel auszubreiten. Alles kommt vor: Lieblingsgericht, Kindheitstrauma, Minderwertigkeitskomplexe, Bulimie, Inzest, Scheidungen, ja selbst die eigenen Kinder werden dem Fernsehen zum Fraß vorgeworfen. Und Gnade dem, der sich der öffentlichen Selbstentblößung entzieht. Wie ich es geliebt hätte, Serge Gainsbourg, wäre er noch am Leben, als Gast bei „DAS!“ zu sehen!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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