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Mon BERLIN: Warum ich eine Kofferpack-Neurose habe

Die Menschheit zerfällt in zwei Hälften: Da gibt es die Glückseligen, die vom Reisefieber verschont bleiben. Dann sind da die anderen: Das Kofferpacken quält sie, sie sind unruhig, fürchten das Schlimmste.

Ganz Berlin startet in die Ferien. Wer in der verlassenen Stadt zurückbleibt, wird Parkplätze direkt vor der Tür finden. Wer verreist, wird mit den Staunachbarn auf der Autobahn ins Gespräch kommen.

Jedes Jahr falle ich auf dem Beifahrersitz in den Schlaf der Gerechten. Ich bin völlig ermattet, kriege nichts mehr mit. Diese Kolumne ist sicher nicht der ideale Ort, um Neurosen auszubreiten, ich kann mich auch nicht für journalistischen Exhibitionismus erwärmen. Deshalb habe ich mein Geheimnis jahrelang sorgsam gehütet. Und am Abend vor jeder Abreise habe ich gegen Windmühlen gekämpft, die ich doch nie besiegen konnte: meine Koffer. Das ging so lange, bis ich aufgeschnappt habe, dass das Kofferpacken viele Menschen belastet.

In den letzten Tagen habe ich in meiner Umgebung eine kleine empirische Erhebung durchgeführt, und dabei ist mir schnell klargeworden, dass die Menschheit in zwei Hälften zerfällt: Da gibt es die Glückseligen, die vom Reisefieber verschont bleiben. In zehn Minuten packen sie ihr Köfferchen, schlagen die Wohnungstür zu, stecken den Schlüssel in die Tasche und machen sich pfeifend auf den Weg zu ihrem neuen sommerlichen Leben. Diese Menschen erklären Ihnen mit heiterem Lächeln: Mir macht es nichts aus, zehn Tage lang dieselbe Hose zu tragen! Ein Fettfleckchen sieht auf hellem Stoff doch nett aus! Das gehört zu den Ferien einfach dazu! Und sicher treffe ich unterwegs einen gütigen Sankt Martin, der mir einen Pullover leiht, falls das Wetter mal schlecht wird! Mit Frohsinn im Herzen und Frieden in der Seele machen sie sich auf die Reise. Am Abend davor laden sie noch ein paar Freunde zu sich nach Hause ein. Der Abwasch kann bis zur Rückkehr warten, es lebe das Abenteuer.

Dann sind da die anderen: Das Kofferpacken quält sie, sie sind unruhig, fürchten das Schlimmste: Sturm, Temperatursturz, Cocktailparty mit Dress-Code, den Fettfleck auf der hellen Hose, der den Urlaub versauen wird. Seit Tagen gibt ihr Zustand Anlass zur Sorge. Sie sind Opfer eines zwanghaften Rituals: erst mal alles rauslegen, danach packen. Nach drei Tagen stapelt sich der ganze Inhalt des Kleiderschranks auf dem Sofa. Die Wohnung sieht aus wie der Verkaufsstand eines Stoffhändlers in Marrakesch. Und nun der Teufelswalzer: rauslegen. Nein, nicht das. Falten und in den Schrank zurückpacken. Aber … bei näherem Hinsehen: Das rote Sommerkleid ist so praktisch, wenn die Sonne scheint. Und dieser Pulli, den ich ganz vergessen hatte und seit zwei Jahren nicht mehr getragen habe … Also wieder rauslegen, auf dem Sofa ausbreiten und so weiter. Dieses Spielchen kann man stundenlang betreiben.

Eine andere Taktik: das Listenschreiben, bevor man den Schrank stürmt. Das Gegengift derjenigen, die das Übel an der Wurzel packen wollen. Eine ordentliche kleine Liste, schon hat man das Reisefieber im Griff. Jedes Jahr nimmt man die Standardliste zur Hand, dieselben Kleidungsstücke werden in derselben Reihenfolge eingepackt, ganz egal, wohin man fährt. Das rote Sommerkleid kommt mit, mag das Ziel Nizza oder Alaska heißen. Dann gibt es die Checkliste aus der „Apotheken-Umschau“ für die Reiseapotheke. Die ADAC-Liste für das Verhalten bei Unfällen, Krankheit oder Notfalltransport. Die Liste für die verlassene Wohnung: Wer bekommt die Schlüssel? Wer gießt die Blumen? Wer leert den Briefkasten? Wer füttert das Meerschweinchen? Zeitungen abbestellt? Die Picknickliste: Wasser, Sandwiches, Decken, falls man die Nacht im Stau verbringen muss. Unendlich ist die Palette der Möglichkeiten. Bis in alle Ewigkeit kann man Unwägbarkeiten voraussehen, Katastrophen verhüten.

In diesem Jahr habe ich eine neue Strategie ausprobiert: den Koffermarathon. Gestern Nachmittag habe ich mir den Wecker gestellt. Genau eine Stunde zum Packen. Zahnbürste. Zwei Hosen. Zwei Röcke. Ein dicker Roman. Dring. Dring. Fertig. Die Reise fängt an. Heute Morgen pfeife auch ich im Auto. Kaum sind wir um die Ecke gebogen, habe ich Berlin schon vergessen, genau wie mein rotes Kleid, das glücklich ist, weil es auf dem Bügel im Schrank hängen bleiben durfte. Ich fühle mich wie ein Astronaut, der den Zustand der Schwerelosigkeit erreicht hat. Ganz leicht. Die schweren Schränke, diese überflüssigen Kleidungsstücke, all diese belastenden Dinge habe ich zurückgelassen. Der Sommer wird lang sein, die Tage voller Überraschungen, der Horizont unendlich. Alles ist möglich. Bonnes vacances!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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