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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Stolz auf Demokratie und Politiker: Warum man Deutschland lieben darf

Die Deutschen trauen ihren Ohren nicht. So lange wurden sie gehasst und verachtet – und plötzlich sind sie die Lieblinge der ganzen Welt.

Es ist schon ein paar Jahre her. Wir fuhren auf der Autobahn A7 von Aix-en-Provence nach Lyon. Ich saß am Steuer. Die noch kleinen Kinder spielten auf der Rückbank Karten. Draußen Wolkenbrüche, ein stählerner Himmel, die plötzliche Kälte des Herbstanfangs. Für das Mittagessen machten wir einen Abstecher nach Grignan, ein hellgraues Dorf auf einem Hügel mitten in Lavendelfeldern.

Im Dorf das Schloss der Marquise de Sévigné, deren Briefwechsel die jungen Mädchen meiner Generation begleitet hat. Wir waren in der Drôme, einer der schönsten französischen Landschaften. Und plötzlich, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun oder das Lächerliche dieses Gefühlsausbruchs schnell maskieren konnte, strömten mir Tränen über die Wangen. Tränen der Zärtlichkeit, der Freude, der Sehnsucht … ja, Tränen, weil ich zu meiner Kultur, meinem Land, meiner Sprache gehörte. „Aber Maman, warum weinst du?“, riefen die beiden Jungs erstaunt von der Rückbank. Die Antwort kam mir direkt aus dem Herzen: „Weil Frankreich so schön ist …“

Nur wenige Tage, nachdem die Franzosen massiv für eine ultra-nationalistische und xenophobe Partei gestimmt haben, könnte dieses Geständnis, das ich heute früh wage, provozierend wirken. Ich höre Sie schon sagen: „Was für eine Unverschämtheit!“ Gerade jetzt, wo Frankreich uns ein so hässliches Gesicht gezeigt hat, so armselig, fremdenfeindlich, missmutig, deprimiert, frustriert, wütend, hasserfüllt. Der FN ist nicht die Drôme im Herbst, und Marine Le Pen ist nicht die Marquise de Sévigné. Und doch – wenn ich heute nach Grignan käme, wenn die anmutige Silhouette des Renaissanceschlosses sich hinter den Regenschleiern abzeichnen würde … ganz sicher würden wieder Tränen fließen. Daran kann auch das politische Beben, das mein Land gerade erschüttert hat, nichts ändern.

Nach der Europawahl dürfen die Deutschen stolz sein

Gestern sah ich in meinem Berliner Zeitungsladen die Titelgeschichte des "Stern": „100 Gründe Deutschland zu lieben. Höchste Zeit, unser Land mal ganz anders zu sehen.“ Die Heimatliebe als Verordnung, mit einer Liste von wichtigen Gründen. Die Briten finden uns cool! Wir sind das erste Einwanderungsland! Die Franzosen träumen davon, unser Wirtschaftsmodell zu kopieren! Angela Merkel, die mächtigste Frau der Erde, jagt niemandem Angst ein! Für die jungen Leute in ganz Europa ist Berlin die sexyste Hauptstadt der Welt! Und eine Pariser Freundin schwärmte letzte Woche: „Vergiss die französischen Männer … die Deutschen sind viel besser!“ Der German Lover ist der letzte Schrei in Paris.

Die Deutschen trauen ihren Ohren nicht. So lange wurden sie gehasst und verachtet – und plötzlich sind sie die Lieblinge der ganzen Welt. Die Pariserinnen reißen sich um sie.

Es ist wohl wahr – nein, ich versuche mich hier nicht einzuschleimen! – nach den Europawahlen dürfen die Deutschen stolz auf ihre Demokratie und ihre Politiker sein. Mitten in den nationalistischen Entgleisungen und den Wutausbrüchen aus Frankreich, Großbritannien, Holland und Österreich ist Deutschland eine große Insel der Glückseligkeit. Eine Ausnahme. Eines der wenigen europäischen Länder, in denen der Rechtsextremismus Pipifax ist, wo er nicht im nationalen Parlament vertreten ist und keine Massen an Wähler mobilisiert.

Und was machen sie? Mit ihrem typischen Hang zur Selbstzerfleischung stellen sie sich die Frage, die so lange tabu war: Darf man Deutschland lieben? Und sie antworten nicht etwa „ja“ aus tiefstem Herzen, sondern sie rechtfertigen sich, wie der "Stern", mit einem skurrilen Grund nach dem anderen: weil wir den Schrebergarten erfunden haben; weil wir sofort draußen sitzen, sobald die Sonne scheint; weil wir den besten Riesling der Welt haben (als Elsässerin sehe ich da rot). Absurd, oder? Und diese Liste lächerlicher Liebeserklärungen zeigt eins sehr gut: Die Deutschen lieben sich nur widerwillig. Dabei haben sie nach den Europawahlen gute Gründe, ein paar Tränen zu verdrücken.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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