zum Hauptinhalt

Mon BERLIN: Wenn ich auf den Regen warte, warte ich auf den Regen

Stressfrei in 7 Tagen: Damit werben Zeitschriften und Magazine. Also abwechselnd Qi Gong und Tai Chi, Pilates und Zumba. Dabei geht es auch ganz anders.

Zwei Holzbänke zu beiden Seiten einer Dorfstraße im Oderbruch. Mein Nachbar sitzt auf seiner Bank. Ich auf meiner. Reglos und stumm einander gegenüber warten wir auf den Regen. Im azurblauen Himmel halten wir Ausschau nach dem angekündigten Bataillon von tief hängenden Regenwolken. Wir bemerken eine verdächtige kleine Brise. Nicht ein Geräusch. Nur der reine Gesang der Nachtigall und das aggressive Sirren der Mücken.

Um mir die Zeit zu vertreiben, blättere ich in einem Lifestyle-Magazin und stoße auf eine aufreizende Anzeige: „Stressfrei in 7 Tagen!“ Gefolgt von einem unglaublichen Katalog der für die Entspannung unerlässlichen Aktivitäten. Mit voller Geschwindigkeit tauche ich in ein mit jahrtausendealtem Thermalwasser gefülltes Becken. Zwischen ein paar meisterhaft ausgeführten Bewegungen von Qi Gong und Tai Chi rasch ein wenig Pilates und Zumba. Eher ein Hindernislauf mit der Stoppuhr in der Hand. Hilfe!

Das alles muss man in eine knappe Woche stopfen. Ich stelle mir vor, wie ich mich in die Warteschlange einreihe und völlig k.o. auf dem Tisch für die Behandlungen mit Natur-Fango, Aromaöl, Tuina- oder Entgiftungsmassage zusammenbreche. Entspannung auf Kommando! Mir wird schwindlig. Mein Herz klopft zum Zerspringen. Meine Beine kribbeln wie verrückt. Ich versinke in einem Mahlstrom von Stress und schlechtem Gewissen: Ich habe den Saunagang vergessen und mich um den Labor-Organ-Check-up gedrückt.

Damit wir dieses hektische Programm überhaupt überleben, wird in der Werbung eine therapeutische Begleitung vorgeschlagen: Stress-Coaching mit Psychologen, ärztliche Lebensstil- und Ernährungsberatung. Ich frage mich, ob die Teilnehmer an dieser Antistresswoche nicht lieber ein Handbuch über den Burn-out einpacken sollten, um nicht zwischen zwei Entspannungsaktivitäten einfach auseinanderzufallen. Einfach als Prophylaxe.

Panisch lege ich die Zeitschrift aus der Hand. Ich frage mich, wozu all dieser Aktivismus taugen soll. Warum diese Tyrannei von Wellness und Fitness? Eine wahre Folter, diese stressfreie Woche, sage ich mir und betrachte eine kleine Kumuluswolke, die in aller Ruhe über den blauen Himmel zieht.

Während ich mich so in meinen Gedanken verliere, ist mein Nachbar immer noch da. Bewegungslos, ein Buddha vom Oderbruch, sitzt er vor seinem Holzhaus, eine Art Jagdhütte, die ihm als Hobbyraum, als Bierkistenlager und als Scheune für das Kaninchenfutter dient. Seit einer Stunde bewegt er sich nicht mehr. Von Zeit zu Zeit macht er sein Kofferradio an, um den Wetterbericht zu hören. „Berlin ist schon durch!“, teilt er mir mit. Die Spannung steigt. Wir spitzen die Ohren. Hören wir in der Ferne schon das Gewitter? Spüren wir schon die ersten Tropfen auf der Haut? Was hält der Himmel für uns bereit, einen Platzregen oder einen Orkan? Und außerdem: Hat der Regen einen anderen Geruch, wenn er aus Berlin kommt? Riecht er nach dem Schweiß der Angestellten, die aus den Büros strömen, nach den Abgasen, den frisch gemähten Wiesen im Tiergarten, dem Wasser der Spree? Wir rühren uns nicht. Wir warten.

Zugegeben, wir sind nicht besonders glamourös, er in einer ausgeleierten Jogginghose, ich in einer zerlöcherten alten Jeans. Ganz anders als die perfekt geschminkte (und zweifellos perfekt gestresste) Blondine vom Anzeigenfoto, die sich wollüstig im Thermalwasserbecken räkelt. Aber in tiefer Zufriedenheit, perfekt entspannt und mit etwas wattigem Kopf beobachten wir die Wolkenbildung.

Der Regen hat den Oderbruch nicht erreicht. Wir haben vergeblich gewartet. Aber als ich abends von meiner Bank aufstand und ins Haus ging, war ich Zen und Super-Zen. Ganz durchdrungen von der Hingabe an den Augenblick. Nur da sein, nur in dem sein, was man gerade tut, raten die Anhänger der buddhistischen Philosophie.

Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich atme, atme ich. Wenn ich auf den Regen warte, warte ich auf den Regen. Mein Nachbar ist zum Abendbrot ins Haus gegangen. Kein Regen heute! Morgen werden wir uns wieder sehen. Jeder auf seiner Bank zu beiden Seiten der Straße. Aber ich glaube, ich werde ihm vorschlagen, in seiner Hütte einen Kurs in Lebensstilberatung zu veranstalten. Stressfrei garantiert!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false