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Meinung: MON BERLIN Zu intim

Die Kellnerin in meinem Schöneberger Café – bauchfreies Top, gepiercter Nabel und leuchtend rote Dreadlocks, wie jene Lola, die einen ganzen Film lang rannte – schreckt mich jeden Morgen aus meiner Zeitungslektüre hoch: „Und du? Was bekommst du?

Die Kellnerin in meinem Schöneberger Café – bauchfreies Top, gepiercter Nabel und leuchtend rote Dreadlocks, wie jene Lola, die einen ganzen Film lang rannte – schreckt mich jeden Morgen aus meiner Zeitungslektüre hoch: „Und du? Was bekommst du?" Am Anfang bin ich jedes mal zusammengezuckt. Ein ehemaliger Babysitter, den ich nicht wiedererkannte? Dieses „Du" irritierte mich. Ich antwortete systematisch mit „Sie", auch auf die Gefahr hin, für reaktionär, griesgrämig und alt gehalten zu werden.

Lola ist nicht die Einzige, die einer flüchtigen Beziehung jene warme Intimität des „Du" aufnötigt. Die Sekretärin eines Modelabels, bei dem ich neulich anrief, hat mich geduzt. Die Sprechstundenhilfe beim Kinderarzt duzt mich. Und seit ich Mitglied eines Genealogie-Netzwerks im Internet geworden bin, schickt mir ein Bataillon von Memelland-Vertriebenen etwa 30 Mal am Tag konspirative „Dus" zu. Das verdanke ich meinem Urgroßvater Charles-George, einem nach Frankreich emigrierten Memel-Deutschen. So teile ich also mit Ingo, Günther und Franz eine verlorene Heimat an den Ufern des Baltikums. Das „Du" ist eine Ehre, ein Symbol der Zugehörigkeit zu einem exklusiven Klub. Ich muss stolz darauf sein.

In den französichen Synchronfassungen amerikanischer 50er-Jahre-Filme folgte der Schwenk zum Du der Logik des puritanischen Nachkriegs-Amerika. Das Szenario war immer gleich: Nachdem der Held und die Heroine sich lange Zeit gehasst haben, fallen sie sich schließlich in die Arme, teilen mit erstarrten Lippen einen frigiden Kuss und verschwinden im Schlafzimmer. Blende. Szenenwechsel. Am nächsten Tag verlassen sie das Zimmer und duzen sich. Ohne dass das Tabu ausgesprochen werden muss, versteht das Publikum, dass ein fleischlicher Akt vollzogen wurde.

Es ist unmöglich, den Deutschen meiner Generation die Subtilität zu vermitteln, mit der jene Schwelle zur Intimität überschritten werden kann. Dieses „Du", auf das man warten muss, dieser kleine Moment sprachlicher Eleganz, in dem man zu zweit in die Vertrautheit gleitet. Dieses Zeichen der Sympathie und des stillen Einverständnisses, das umso kostbarer ist, wenn man es nicht jedem gewährt. Das „Du", haben mir meine deutschen Freunde erklärt, ist ein Zeichen der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft in den 70er und 80er Jahren. Das preußische, nazistische, an Ordnung und Hierarchie gewohnte Deutschland versuchte, locker, egalitär und zwanglos zu werden. Der Gymnasiallehrer „Herr Studienrat Dr. Schmidt" war plötzlich „der Joachim, du", während unser „Monsieur Jaby" für uns immer „Monsieur Jaby" und „Sie" blieb – vor und nach 68.

Zu meiner Beruhigung stieß ich kürzlich auf eine Studie des Allensbach-Instituts, in der es heißt: „Während 1993 noch jeder dritter Deutsche angab, dass er mit neuen Bekannschaften ziemlich schnell beim Du lande, sagen das heute nur noch 29 Prozent. Vor allem bei den Jüngeren ist das allgemeine und lockere Du rückläufig." Was, wenn Lola mich morgen früh mit „Madame" begrüßen würde? Und wenn Ingo, Günther und Franz mir plötzlich 30 Mal am Tag ein „Sehr verehrte Frau" zuschickten?

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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