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Meinung: Munteres Reform-Lotto

Wenn eine Idee die andere jagt, siegen am Ende die schlechtesten Konzepte

Von Ursula Weidenfeld

Kein Tag ohne einen Reformvorschlag, keine Woche ohne Grundsatzpapier, kein Monat ohne Strategieklausur einer der Parteien. Es ist, als müsste die in Jahrzehnten verschlafene Reformdebatte in wenigen Stunden nachgeholt werden. Als wäre das Land ein einziges gewaltiges Brainstorming zu der Frage „Was sich noch nie einer zu denken getraut hat, was aber jetzt unbedingt mal einer sagen muss“.

Das wäre nicht schlimm, wenn dadurch die Aussichten auf eine vernünftige Reform des Arbeitsmarktes, der Rente und der Gesundheit stiegen. Wenn die Vorschläge auf ihre Wechselwirkungen für andere Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik überprüft würden. So ist es aber nicht. Die aktuelle Reformdiskussion folgt nur einem politischen Gesetz: Verhandlungsmasse aufbauen. Die innere Logik des Reform-Lottos: Wenn man sechs Reformen durchsetzen will, muss man mindestens zwölf starten. Damit es etwas gibt, das man sich in der Fraktion, im Kabinett, im Bündnis für Arbeit, oder vom Bundesrat abhandeln lassen kann.

Das hat doppelt verheerende Konsequenzen. Der erste Schaden liegt darin, dass es Bürger und Wähler nicht mehr nachvollziehen können, wer was mit welchen Aussichten auf Erfolg will. Welcher Vorschlag noch auf der Agenda steht und welcher längst begraben ist. Worauf er sich einstellen muss – und was er getrost vergessen kann. Kündigungsschutz, Familienmitversicherung oder Privatversicherung von Freizeitrisiken? Kürzung der Lohnfortzahlung oder doch Prämien für bekehrte Raucher? Vielleicht alles davon, aber nur für Menschen unter 35?

Wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder wirklich Reformen will, wenn Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wirklich auf die Bereitschaft der Bürger setzen, dabei mitzuziehen, ist es höchste Zeit, mit diesem Klamauk aufzuhören. Und stattdessen nur die Themen auf die politische Agenda zu setzen, die wirklich ernst gemeint sind.

Tun sie das nicht, riskieren sie als zweite verheerende Konsequenz, dass am Ende ausgerechnet die Reformen übrig bleiben, die beschäftigungspolitisch kontraproduktiv sind. Beispiel Kündigungsschutz: Selbst neoliberale Ökonomen bezweifeln, dass eine Lockerung des Kündigungsschutzes viele neue Arbeitsplätze bringt. Deshalb tut man zwar kleinen Unternehmen etwas Gutes, wenn man – wie Clement das vorhat – in Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten den Kündigungsschutz erleichtert. Entscheidend aber wirkt der Kündigungsschutz bei der Auswahl der Bewerber um einen bereits existierenden Arbeitsplatz. Rationale Arbeitgeber werden Jüngere künftig noch lieber einstellen. Weil sie leichter (und billiger) zu entlassen sind, wenn es dem Unternehmen schlecht geht. Das Hartz-Konzept beurteilt das ebenso – und empfiehlt das Gegenteil: eine Lockerung des Kündigungsschutzes für Ältere, damit sie wieder eingestellt werden. Dasselbe Problem stellt sich bei der Lohnfortzahlung. Wenn Arbeitgeber die Lohnfortzahlung für Jüngere einschränken dürfen, sinken die Lohnnebenkosten nur für diese Beschäftigtengruppe. Im Verhältnis dazu aber werden ältere Arbeitnehmer noch teurer.

Die Aussichten dafür, dass beim Reform-sechs-aus-49 ausgerechnet die eher negativen Maßnahmen übrig bleiben, sind nicht schlecht. Ihnen könnten die Gewerkschaften am ehesten zustimmen, ohne sich dem Vorwurf sozialer Kälte auszusetzen. Außerdem werden, ganz nebenbei, die Interessen der zahlenden Kundschaft der Gewerkschaften bedient. Die Insider auf dem Arbeitsmarkt verbessern ihre Wettbewerbsposition, die Außenseiter bleiben draußen.

Als Arbeitsminister kann Wolfgang Clement nicht wollen, was er jetzt als Wirtschaftsminister in die Welt setzt. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Reformdebatte. Eine echte.

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