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My BERLIN: Der XXL-Mann und die Folgen

Roger Boyes, The Times

Erst, wenn man mit Easyjet fliegt, merkt man, dass unser Planet in die Hände von fetten Menschen gefallen ist. Easyjet ist eine Fluggesellschaft, die merkwürdigerweise entscheiden hat, Kosten zu senken, indem sie die Platzreservierung abschafft – und so den Fluggästen einen darwinistischen Kampf um die Fensterplätze aufhalst oder, in meinem Fall, um den Platz am Notausgang. Kurz nachdem ich mir den Platz gekapert hatte, die Schwachen und Lahmen hatte ich zur Seite geboxt, ließ sich ein großer, nein ein XXL-Mann in den Sitz neben mir fallen. Sein Sitz, entworfen für einen schlanken irischen Zwerg, ächzte unter dem konturlosen Körper. Kurzatmig fragte er mich, ob wir die Sitze tauschen könnten. Normalerweise bin ich zuvorkommend, aber ich war erschöpft und zu keinem Opfer bereit. Nach dem Start wühlte der XXL-Mann eine Haribo-Box heraus und stopfte sie sich mit seinem Filetstück von Faust in den Mund. Dann eine Packung Schokoladenkekse. Dann Cheese Twisters. Fünfzehn Minuten nach dem Start wurde er plötzlich hungrig und kaufte sich zwei Muffins mit Mars-Geschmack und eine heiße Schokolade.

Es war, sagen wir, ein schwieriger Flug. Bis jetzt war ich immer dagegen, die Übergewichtigen zu stigmatisieren. Natürlich sollten wir Kinder vor schlechten Essgewohnheiten schützen, aber Übergewicht gab es auch schon vor McDonald’s und Fastfood ist nicht die Wurzel allen Übels. Aber jeder fette Mensch jenseits der 30 hat sich entschieden, ein bestimmtes Leben zu leben – nicht schlimmer als Rauchen oder Saufen –, oder er ist krank, an der Schilddrüse oder sonst was. Wir sollten keine Staatsressourcen darauf verschwenden, solche Menschen dünn zu machen, nur weil das der zeitgenössischen kulturellen Norm entspricht. Manchmal glaube ich, dass wir gezwungen werden, eine gewisse politische Metapher auszuleben: Die Deutschen, verantwortungslos vollgestopft mit Subventionen und durchgefüttert vom Wohlfahrtsstaat, müssen dünn und zäh werden, um zu überleben. Motto: abnehmen oder untergehen.

Das dachte ich – doch dann hatte ich diesen Easyjet-Moment, den Blitz einer ästhetischen Revolte. Nach dem Flug hatte ich den subversiven Gedanken: Vielleicht sollten wir kein Mitleid mehr mit fetten Menschen haben. Vielleicht sind die Fetten nicht, wie ich immer dachte, eine unterdrückte Minderheit, sondern eine Invasionstruppe, die uns anderen ihre selbstgefälligen Standards aufzwingen will.

Versuchen Sie einmal, Hosen für einen großen, dünnen Elfjährigen zu kaufen. Fast unmöglich, wenigstens in Berlin, wo groß nur mit fett zusammengeht. Kein Wunder, dass die Schneider hier so gut im Geschäft sind. Und dann die Sache mit den „Body Scanners“, die Hüfte und Brustumfang von 12 000 Deutschen gemessen haben: Nun soll das System geändert werden, damit die Fetten sich besser fühlen, XL wird zu L, L wird M.

Mein überintimer Kontakt mit dem XXL-Mann führte dazu, dass ich zum ersten Mal zu Weightwatchers ging. Ich musste eine klare Linie ziehen zwischen mir, einem L mit Ausbuchtungen, und dem XXL-Stamm . Weightwatchers versieht alle Nahrungsmittel mit Punkten und setzt einem eine Grenzzahl. Ganz sinnvoll für jemanden, der in Berliner Restaurants isst, wo mangelnde Qualität gern mal durch Quantität ersetzt wird, wo Schnitzel nach Größe, nicht nach Geschmack beurteilt werden. Das System funktionierte eine Weile, ich verlor Gewicht. Doch diese Diäten rauben dem Essen seine Sinnlichkeit, den Geruch und den feinen Nachgeschmack, der Essen zur Freude macht. Also esse ich wieder normal.

Aber all das hat mich nicht milder gegenüber dem XXL-Stamm gestimmt. Die große zivilisatorische Herausforderung besteht darin, sich die sinnlichen Freuden zu erhalten, ohne übermäßig zu werden. Das ist eine Anstrengung. Viele fette Menschen sind nicht so sehr körperlich faul als geistig: Sie lassen in ihren Kopf nicht das Problem hinein, das darin besteht, zwischen Genuss und Übermaß einen Ausgleich zu schaffen. Wenn Übergewicht wirklich ein soziales Problem ist (wie von der Leyen und Seehofer offenbar glauben), dann reicht es nicht, McDonald’s zu verteufeln oder Schulmahlzeiten von Jamie Oliver kochen zu lassen. Vielmehr müsste den Menschen – Kindern, Erwachsenen – geholfen werden, einen Sinn für ihr eigenes Aussehen zu entwickeln und ein realistisches Bild von sich selbst. Warum haben so viele deutsche Männer einen Bauch? Weil sie sich beim Biergenuss nicht zurückhalten können? Oder weil sie einen Bauch für männlich halten, eine Quelle sexueller Attraktion? Vielleicht sollten Frauen mit fetten Männern weniger nachsichtig sein; vielleicht sollten wir alle den Fetten gegenüber kritischer sein. Ist das Körperfaschismus?

Was ist bloß aus meiner alten Leben-und-leben-lassen-Toleranz geworden? Easyjet ist schuld.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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