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My BERLIN: Sie betreten den russischen Sektor

Offiziell leben nur 15.000 Russen in Berlin, allerdings gibt es hier 300.000 Menschen, deren erste Sprache Russisch ist, dazu zählen Russland-Deutsche und eingewanderte russische Juden.

Ich habe nie wirklich an die russische Seele geglaubt. Zunächst einmal, weil sie mit einem Liter Wodka gegossen werden muss, bevor sie blüht (wie diese Fertiggerichte, die kochendes Wasser brauchen). Außerdem scheint das russische Genie nur unter bestimmten Bedingungen zu gedeihen, etwa im Krieg, im Exil oder unter erdrückender Zensur. Welche Art von Seele soll das sein?

Andererseits bin ich ein großer Fan von Kefir, dieser sauren Milch. Sie muss der Grund dafür sein, warum russische Landfrauen so lange leben.

Allerdings gibt es da ein Problem. Mein Supermarkt um die Ecke war mal richtig schön heruntergekommen, ausgefranst wie die Kanten von Jacken alter Professoren – nun ist er modernisiert worden: Parkettboden, rote Einkaufskörbe, und die Mitarbeiter rotieren durch die Filialen der Kette, so dass sie sich nicht die Namen von uns Kunden merken. Der Laden hat nun bis 22 Uhr auf. Das heißt, man kann Günther Jauch schauen und später noch Toilettenpapier kaufen. Allerdings lassen sich die Barcodes an den Verpackungen nicht mehr so leicht scannen. Nach fünf Minuten gescheiterter Versuche schreien die Kassierer: „Was kosten die Tampons?“ Dann stehen sie auf, denn außer dem gelangweilten Sicherheitsmann ist kein Kollege da. Das führt dazu, dass sich gegen 22 Uhr eine Schlange vor der Kasse bildet. Und Produkte verschwanden aus den Regalen. Keine Glühbirnen, keine englischen Weetabix, um der Morgenverdauung auf die Sprünge zu helfen, und, ja, nur eine Sorte Kefir. Wässeriges Zeug aus Bayern.

Natürlich sollte man dann besser in der Kantstraße in Charlottenburg shoppen gehen. Die Straße steht, seit ich mich erinnern kann, unter russischer Besatzung, da ist der russische Buchladen am Amtsgericht, die Import-Export-Läden, die Schneidereien aus Swerdlowsk, heute unter dem Namen Jekaterinburg bekannt. Die russischen Geschäfte expandieren. Der Obstladen unter der S-Bahn hat nun auch eine Pelmeni-und-Piroggi-Bar. Der Moskauer Lebensmittelladen in der Lewishamstraße läuft, in der Nähe steht mit „Prima“ ein russischer Außenposten und „Die Marone“ an der Ecke Kaiser-Friedrich-Straße macht gute Geschäfte mit lebenden Karpfen – es scheint, als würde es auf dem Stuttgarter Platz heißen: „Sie betreten jetzt den russischen Sektor.“

Wo kommen all die Kunden her? Offiziell leben nur 15 000 Russen in der Stadt, allerdings gibt es hier 300 000 Menschen, deren erste Sprache Russisch ist, dazu zählen Russland-Deutsche und eingewanderte russische Juden.

Im „Prima“ habe ich den Mann einer Freundin eines Freundes getroffen. Seine Frau besucht gerade ihre Mutter in St. Petersburg, deshalb kauft er Überlebensrationen. Fertignudeln („Man muss nichts abwaschen, du kannst essen und relaxen, ohne Schuldgefühl“), eine Flasche Stalinskaya-Wodka, ein Buch von Gennadi Malachov über Urin-Therapie („ein Glas täglich ist alles, was das Immunsystem braucht“) und, ja, Kefir. Der Laden ist ein merkwürdiger Mix aus russischen DVDs („Liebe, Lust und Frust“, mit Untertiteln ) und Käse, Selbsthilfebüchern und blumigen Ölbildern, um Löcher in den Wänden von Mietwohnungen zu verbergen, Heringen und einem schwarzen Brett mit den Nummern russischer Scheidungsanwälte. Im Hintergrund plärrt russisches Radio. Das ist nicht nur Russland, es ist die russische Provinz. Krasnojarsk vielleicht, um 1993. Und zugleich ein Laden, der 2009 in der Mitte Berlins boomt.

„Vielleicht sind es die Ossis“, sage ich zu Dima, was jetzt der Name des Ehemanns der Freundin eines Freundes ist. „Vielleicht fühlen sie sich nur noch in Charlottengrad wohl – post-sowjetischer Eklektizismus.“ – „Die Ossis hassen uns genau so stark wie andere“, sagt er, „Russenphobie ist in Berlins DNA.“ Ich erwidere: „Was ist mit Markus Wolf?“ – „Tot.“ – Stimmt, denke ich. – „Die Deutschen, die du hier siehst“, sagt Dima, „ glauben, die russische Diät sei die gesündeste der Welt.“ – Ein Glas Urin? – „Und der Fisch, der fettarme Käse, die Melonen, das schwarze Brot. Einige Deutsche denken, wir sind eine vergiftete Nation, aber die Klügeren sehen, dass wir heute nicht so sehr auf unsere Schriftsteller stolz sind, sondern auf Fisch-Piroggi. Dafür wird uns die Welt wieder lieben.“

„Wieder?“, frage ich. Aber wenigstens hatte ich meinen Kefir. Später bekam ich davon Magenkrämpfe. Ich kaufe Montag einen neuen und werde es wieder versuchen. Das lehrt uns russische Geschichte: Nie aufgeben!

Aus dem Englischen übersetzt von Hannes Heine

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