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My BERLIN: Wie gut, dass ich kein dünner Hering bin

Es ist eigenartig, dass Männer Frauenzeitschriften nur dann lesen, wenn sie Schmerzen haben. Wer darauf wartet, dass ihm ein Zahn gezogen wird oder ein Magengeschwür untersucht wird, liest im Wartezimmer die aktuelle „Brigitte“.

Es ist eigenartig, dass Männer Frauenzeitschriften nur dann lesen, wenn sie Schmerzen haben. Wer darauf wartet, dass ihm ein Zahn gezogen wird oder ein Magengeschwür untersucht wird, liest im Wartezimmer die aktuelle „Brigitte“. Dabei fällt einem auf, dass etwas äußerst Merkwürdiges auf dem Planet Frau passiert. Die Zeitschrift bietet nämlich eine besondere Kalorien-, Fett- und Energiedichtetabelle „für die Handtasche“ an. Keine große Überraschung, es ist schließlich Januar, die Jahreszeit, zu der es Frauen nahegelegt wird, dünner zu werden.

Aber halt, hat die „Brigitte“ nicht gerade eine revolutionäre „Keine-Models-Kampagne“ gestartet, mit Frauen, die nicht mehr so aussehen wie Charles-DickensWaisenkinder? Es stimmt, auf den Seiten ist eine normal große, attraktive Frau nach der anderen zu sehen – eine Lehrerin, eine Gastronomin, eine Verkäuferin –, von denen allen eine andere gesellschaftspolitische Botschaft ausgeht als von dem Gratis-Diätbüchlein: die nämlich, dass Frauen sich ihre Körperform nicht von der Modeindustrie oder Diätexperten oder Schönheitschirurgen oder Herstellern von Anti-Falten-Cremes vorschreiben lassen sollten. Starke Frauen haben keine Angst vor eine paar zusätzlichen Kilos oder Falten.

Verwirrt? Wie ich. Eigentlich müsste die neue „Brigitte“ doch die Position vertreten, dass Frauen eine Gewichtszunahme- Diät beginnen sollten. Man kann nicht dicken Frauen nahelegen, Gewicht zu verlieren, damit sie in eine 38 passen, und gleichzeitig Frauen feiern, die kein Gewicht verlieren wollen, weil sie nicht vom Glamour-Wahn manipuliert werden wollen. Das Widersprüchliche, das im weiblichen Selbstbild steckt, findet sich Seite an Seite, eingerahmt von Werbung für Dove und den Dünne-Mädchen- Anzeigen für Lederröcke vom Otto-Versand.

Ich habe nichts gegen die „Brigitte“, sie liest sich gut, sogar wenn man Zahnschmerzen hat; die widersprüchliche Haltung ist schlicht ein Spiegel der gesamten Diskussion über das Bild des weiblichen Körpers seit den 50er Jahren. Damals waren Frauen im Durchschnitt leichter gebaut als heute: Sie waren drei Zentimeter kleiner, ihre Hüften schmaler, ihre Knochen leichter. Trotzdem waren die begehrenswertesten Frauen jener Ära Stars wie Sophia Loren und Marilyn Monroe – weder die eine noch die andere war besonders dünn. Dünn hieß damals arm; gut genährte Frauen galten als gesund und gebärfähig. Der „Body Mass Index“ (BMI) der „Playboy“-Mädchen ist im Durchschnitt von 19,2 (60er Jahre) auf 17,6 gefallen – während der BMI der normalen Frauen im gleichen Zeitraum von 22,2 auf 26,8 gestiegen ist. Männer haben eine ähnliche Entwicklung durchgemacht: Fette Politiker waren Potentaten, damals konnte man kaum einen Unternehmer finden, der nicht mindestens 90 Kilo wog. Heute gelten fette Männer als Versager.

„Brigitte“ und andere gesellschaftliche Kämpfer gegen Size-zero-Models argumentieren, dass wir die Balance wiederherstellen müssen zwischen dem, was wir im Spiegel sehen, dem, wie wir von anderen gesehen werden, und dem, was uns die Medien als Ideal vorgeben. Es geht am Ende, so offenbar die Logik, um die Geschäftstüchtigkeit der Modefirmen und ihre Werbemacht über die Medien. Diese Macht muss gebrochen werden: Sobald Frauen Widerstand leisten und größere Größen verlangen, müssen die Firmen klein beigeben, sich an den neuen Bedarf anpassen und die anorektischen Gerippe vom Laufsteg nehmen.

Aber so einfach ist es natürlich nicht. Fette Menschen werden heute verächtlich betrachtet, weil sie den Eindruck erwecken, dass sie sich nicht ausreichend um die eigene Gesundheit kümmern – sei es aus Schwäche oder aus einem unerklärlich selbstzerstörerischen freiwilligen Akt. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass eine große Mehrheit im Flugzeug nicht neben einer dicken Person sitzen möchte – nicht nur, weil sie so viel Platz in Anspruch nimmt, sondern aus einer ästhetischen Abscheu heraus, aus dem Gefühl, dass mit einem Menschen, der nichts gegen seine Übergewichtigkeit tut, etwas nicht stimmt.

Das ist eine primitive Reaktion, die so irrational ist wie Islamophobie. Dicke Menschen – nicht adipöse – leben oft länger als dünne; sie führen ein glückliches, befriedigendes Leben. In den USA, wo zwei Drittel der Bevölkerung offiziell übergewichtig sind, gibt es eine „Fett und stolz darauf“-Bewegung und einen nationalen Verband, der für die Akzeptanz von Fettleibigkeit kämpft. Erst wenn die „Brigitte“ eine fette Kolumnistin anstellt und erfolgreiche, übergewichtige Geschäftsfrauen porträtiert und dicke Prominente abbildet, bin ich davon überzeugt, dass die Zeitschrift wirklich öffentliche Wahrnehmungen verändern will und sich nicht einfach nur eines Marketingtricks bedient.

Was mich angeht: Meine Jeans werden enger, vermutlich, weil ich sie zu heiß wasche. Eine meiner ersten Expeditionen nach der Weihnachtszeit war ein Besuch des Nike-Ladens in der Tauentzienstraße, dem Sport-Tempel. Umgeben von echten Athleten und hartgesottenen Läufern kaufte ich mir eine Jogginghose. Nicht die Hartz-IV-Schlabberversion, sondern eine anständige schwarze Trainingshose mit einem Reißverschluss am Ende des Beins. Um die Hüfte hält sie ein Gummizug.

„Für das Sportstudio oder für draußen?“, fragte der Verkäufer.

„Für McDonalds“, war meine Antwort. Manchmal müssen wir Dicken eben Haltung beweisen.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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