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Merkel im Wahlkampf.

© dpa

Nach Steinbrück-Bemerkung: Das Europa der Angela Merkel

Peer Steinbrück meint, Angela Merkel stehe dem Projekt Europa distanziert gegenüber, weil dieses Europa in der DDR, wo sie aufwuchs, kein Thema war. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe hält das für eine Beleidigung von Millionen ehemaliger DDR-Bürger. Gerd Appenzeller plädiert für verbale Abrüstung.

Angela Merkels Zugang zu Europa ist in der Tat ein anderer, als der vieler Westdeutscher ihrer Generation. Die politisch Interessierten in der alten Bundesrepublik hatten Europa immer als eine Art von Ersatz-Nation verstanden. Das Motto „Unsere Heimat heißt Europa“ heilte nicht nur Trennungsschmerzen, sondern erlaubte auch die Verwendung des Begriffs Heimat, der ja, bezogen nur auf Deutschland, bei vielen sich progressiv wähnenden unter dem Verdacht der Deutschtümelei stand. Die „Heimat Europa“ führte aber auch zu einer neuen Identität, die die deutsche, vom Dritten Reich belastete, überwölbte. Den von Heinrich August Winkler mehrfach zitierten „langen Weg nach Westen“ gingen die West-Deutschen auf ihre eigene Weise. Der eiserne Vorhang war zwar für Bundesbürger keineswegs undurchdringlich, der Gang durch ihn eigentlich nur bürokratisch lästig, ansonsten unproblematisch. Aber die Reisen führten trotzdem viel eher Richtung Westen. Eine der Ursachen:  Krieg und Vertreibung hatten zusätzlich landsmannschaftliche und familiäre Bindungen zerrüttet und verschüttet.

Die Alten litten unter der Teilung, die Jungen unter dem Mangel an Freiheit

Für die DDR-Bürger der älteren und der jüngeren Generation war der Blick nach Westen immer sehnsuchtsvoll geblieben. Die Alten litten unter der Teilung, die Jungen unter dem Mangel an Freiheit, was meistens meinte: Mangel an Freizügigkeit. Die in der Mitte arrangierten sich zwangsweise oder glaubten an den sozialistischen Weg und zweifelten allenfalls an denen, die die Richtung dorthin vorgaben. Europa aber als Idee einer supranationalen oder doch zumindest die nationale Souveränität begrenzenden überstaatlichen Organisation war ihnen fremd. Kein Wunder, an den Segnungen der Europäischen Union wie der Reisefreiheit und dem Recht auf Niederlassung und Arbeitsaufnahme wo auch immer in der EU konnten sie nicht partizipieren. Europa als begeisternde Vision, wie sie die großen Europapolitiker der ersten zwanzig Nachkriegsjahre unablässig propagierten, sagte ihnen nichts. Und als die Wiedervereinigung kam, dominierte die Freude darüber, dass Deutschland nun eine ungeteilte Nation war. Ja, Nationalgefühl gab es nach 1989 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR durchaus häufiger als in der  Bundesrepublik der Jahre 1949 bis 1989.

Europa als rationale Entscheidung

Insoweit hat Peer Steinbrück durchaus Recht, wenn er die fehlende Leidenschaft der Kanzlerin für Europa als Ergebnis ihrer Sozialisation in der DDR interpretiert. Natürlich sieht Angela Merkel das „Projekt Europa“ leidenschaftsloser  als viele andere, aber das muss kein Schaden sein, denn von der Notwendigkeit eines eng zusammen arbeitenden Europa ist sie felsenfest überzeugt. Sie argumentiert dabei streng rational, dass nur ein vereintes Europa – möglichst sogar unter Einbindung Russlands – zwischen den großen Blöcken China und USA bestehen könne. Dass sie dabei weit skeptischer als etwa Helmut Kohl ist, darf man durchaus als Vorteil sehen. Der Europäer Helmut Kohl, der Kanzler der großen Bundesrepublik mit dem tiefen Verständnis für die kleinen und mittleren Staaten Europas, war zu seiner Zeit die Idealbesetzung als deutscher Regierungschef. Seine Methode, Widerspruch und Widerstand unter Geld zu ersticken, würde heute freilich nicht mehr funktionieren. Auch das hat Angela Merkel verinnerlicht. Europa ist ihr keine Herzenssache, sondern als rationale Entscheidung alternativlos – und damit eben auch eine Rechenaufgabe.

Und hier setzt die große Sorge ein. Bei der Ermittlung des Preises, den Europa kosten darf, steht für sie ganz oben nicht die Frage, was für Deutschland angemessen und notwendig ist, sondern nur die, was man dem Wähler jeweils zumuten kann. Wenig, ist die Standardantwort, eigentlich nichts. Um ihr konservatives Profil in einer immer weniger konservativen Partei bemühte Christdemokraten und Christsoziale  haben die Kanzlerin früh in diese Ecke getrieben, indem sie keine Möglichkeit ausließen, die Südeuropäer als unzuverlässige Hallodries hinzustellen, und sie wurden dabei begeistert unterstützt, ja, sogar angetrieben, von einem konservativen Boulevard. Das fiel umso leichter, als ja tatsächlich Griechenland, Portugal und Italien die niedrigen Zinsen des Euro nach dessen Einführung zur Aufnahme gewaltiger Kredite zu nutzen. Nicht etwa, was gut gewesen wäre, um die Infrastruktur auszubauen und einen die Gesellschaft stabilisierenden Mittelstand zu  unterstützen, nein, um den Staatsapparat aufzublähen und aberwitzig überdimensionierte Kongresszentren und kommunale Renommierprojekte in die Landschaft zu klotzen.

Europa wartet sehnsüchtig auf die Gestaltungskraft Deutschlands

Niemand kann ernsthaft fordern, dass Deutschland für die so aufgehäuften Schulden aufkommen muss. Aber eine Haftungsgemeinschaft sind wir längst geworden. Die Strukturfonds und die Regionalförderungen sind nichts anderes als der deutsche föderale Finanzausgleich auf europäischer Ebene. Und so ungerecht ist das auch nicht, denn deutsche Unternehmen und deutsche Geldinstitute haben überall vom Geldausgeberausch der Südeuropäer profitiert. Wahr ist: Europa hat keinen anderen Weg als den der immer weiter gehenden Einigung und Deutschland tut gut daran, ihn mit zu gestalten, nicht den Weg dorthin zu blockieren. Der mehr als 100 Jahre alte Satz des deutschen Historikers Ludwig Dehio, wonach unser Land zu schwach ist, den Kontinent zu beherrschen, aber zu stark, um sich einzuordnen, mochte in Zeiten richtig gewesen sein, in denen Macht nur über die Zahl der Soldaten definiert wurde. Heute trifft er nicht mehr zu. Heute wartet Europa geradezu sehnsüchtig auf die Gestaltungskraft Deutschlands und auf die Vorschläge seiner Politiker, wie der Weg dorthin aussehen soll. Das erfordert Mut, Tatkraft, verlangt den Verzicht auf nationalistische und populistische Töne, zwingt zu Führungskraft. Diesen Willen, entschlossen voran zu schreiten, nicht immer nur zu taktieren und zu verzögern, vermisst man bei der Bundeskanzlerin. Leidenschaft braucht sie keine. Einen klaren Kompass schon.

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