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Meinung: Nahost-Krise: Die Generalprobe

Es waren keine "Unruhen", kein willkürlicher "Ausbruch der Gewalt", es war eine neue Phase des palästinensischen Freiheitskampfes. Wer diesen Hintergrund nicht versteht, verkennt, was geschehen ist - und darum auch, was geschehen wird.

Es waren keine "Unruhen", kein willkürlicher "Ausbruch der Gewalt", es war eine neue Phase des palästinensischen Freiheitskampfes. Wer diesen Hintergrund nicht versteht, verkennt, was geschehen ist - und darum auch, was geschehen wird.

Seit Jahrzehnten kämpfen die Palästinenser um ihr Recht, einen eigenen Staat zu errichten. Das war der Sinn der Intifada. Das war auch der Sinn des Oslo-Abkommens, obwohl Jitzhak Rabin sich damals weigerte, das offen auszusprechen. Und das ist jetzt auch der Sinn der neuen Auseinandersetzung. Darum kann das Scharm el-Scheich-Abkommen bestenfalls einen kurzen Waffenstillstand bewirken. Wenn man nicht schnell zu der politischen Lösung kommt - und das ist ziemlich unwahrscheinlich -, wird der Krieg wieder ausbrechen. Und zwar noch viel blutiger als bisher.

Die letzten zwei Wochen waren nur eine Generalprobe - eben eine Probe für die Generäle. Nach sieben Jahren, in denen der Oslo-Vertrag nur teilweise erfüllt wurde, ist den Palästinensern der Geduldsfaden gerissen. Sie haben das Vertrauen in Amerika, aber auch in Europa und in die arabischen Staaten verloren.

Als Ehud Barak gewählt wurde, haben sie aufgeatmet. Barak hatte ja versprochen, innerhalb von 15 Monaten einen Friedensvertrag mit den Palästinensern zu unterschreiben. Gerade deshalb war die Enttäuschung so tief, als sich herausstellte, was er damit meinte: einen zerstückelten Palästinenserstaat, ohne wirkliche Souveränität über die arabischen Viertel und die islamischen Heiligtümer in Jerusalem, mit großen israelischen "Siedlungsblocks" zwischen den palästinensischen Ortschaften.

Inzwischen wurden die Erweiterung der Siedlungen und die Enteignung palästinensischen Bodens unter Barak noch beschleunigt. Das führte zu einer Speicherung der Frustration, der Verbitterung und der Wut, die nur einen Funken brauchte, um auszubrechen. Dazu kam der Sieg der Hisbollah im Libanon, der zu jener allgemeinen Überzeugung führte, die überall in den palästinensischen Gebieten zu hören war: "Die Israelis verstehen nur die Sprache der Gewalt".

Als Ariel Scharon in das Gebiet der islamischen Heiligtümer eindrang, mit Genehmigung von Barak und in Begleitung von 1200 Polizisten, begann die neue Phase. Am nächsten Tag erschoss die israelische Polizei sieben unbewaffnete Demonstranten neben der al-Aksa-Moschee. Wie in jedem Krieg, hat sie die Wut auf beiden Seiten nur noch gesteigert. Palästinenser sahen, wie israelische Scharfschützen ihre Steine werfenden Kinder erschossen. Israelis sahen, wie ein palästinensischer Pöbel zwei israelische Soldaten lynchte. Jede Seite behauptet, die Führer der anderen wären Unmenschen, die keine "Partner" für den Frieden sein könnten. Auf beiden Seiten haben die Extremisten an Popularität gewonnen.

Israelis fordern von ihrer Armee, die palästinensischen Dörfer und Städte mit Hubschraubern und Panzern anzugreifen; Palästinenser warten ungeduldig darauf, dass islamische Selbstmörder Busse und Märkte in Israel in die Luft sprengen. Genau das wird in der nächsten Runde auch passieren. Diesmal sind 110 Menschen, darunter 104 Palästinenser, ums Leben gekommen. Nächstes Mal werden es viele Hunderte werden. Kann das noch verhindert werden? Nur, wenn wir schnell zu einem Frieden kommen. Nicht zu einem "Friedensprozess", nicht zu endlosen Verhandlungen, sondern zum Frieden selbst.

Wie wird, wie kann dieser Frieden aussehen? Man wirft den Palästinensern vor, nicht kompromissbereit zu sein. Sie wollen eben "alles". Dabei wird vergessen, was "alles" ist. Wenn Jassir Arafat das ganze Westjordanland und den Gazastreifen, mit Ost-Jerusalem, für den Staat Palästina verlangt, dann heißt das, dass er schon im Voraus auf 78 Prozent des Landes Palästina, das bis 1948 bestand, verzichtet hat. Jetzt will Ehud Barak, dass man über die restlichen 22 Prozent einen "Kompromiss" schließt. Das führt zu nichts.

Die grundlegende Tatsache ist, dass Israel seit 1967 auch die restlichen 22 Prozent beherrscht. Jede Besetzung ist von Natur aus brutal und brutalisierend, menschenunwürdig und unmenschlich. Es ist das Recht der Palästinenser, gegen die Besetzung aufzustehen und für ihre Freiheit und Selbstständigkeit zu kämpfen. Wer das bestreitet, wird niemals zu einem Frieden kommen.

Deshalb muss ein Staat Palästina neben dem Staat Israel entstehen. Die Grenzen von vor 1967 müssen wiederhergestellt werden (vielleicht mit einem begrenzten Gebietstausch), die Siedlungen müssen aufgelöst werden, Jerusalem muss die Hauptstadt beider Staaten werden - das arabische Ost-Jerusalem, mit den islamischen Heiligtümern, Hauptstadt Palästinas; das jüdische West-Jerusalem, mit der Klagemauer, Hauptstadt Israels. Das Flüchtlingsproblem muss auf moralische und pragmatische Art gelöst werden.

Diese Lösung, die die israelische Friedensbewegung schon seit vielen Jahren vorschlägt, wird am Ende siegen. Einfach deshalb, weil es keine andere gibt. Auch wenn es zu einem neuen und noch viel schlimmeren Blutbad kommt, wird am Ende dieselbe Lösung auf dem Tisch liegen.

Uri Avnery

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