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Nationaltaumel zur Europameisterschaft: Werdet fahnenflüchtig!

Schwarz-Rot-Gold an Balkonen und Autos, auf Jünglingswangen und um Hundehälse. Dürfen die Deutschen das? Scheint so. Müssen sie es deshalb tun? Nein. Warum das neue Fahnenschwenken ein Rückschritt ist.

Von Julia Prosinger

Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich trau’s mich kaum. Wo doch jetzt alle glücklich sind. Und abends singen. Ich will kein Spaßverderber sein. Es ist nur so: Ich mag keine Fahnen. Ich schäme mich, wenn ich sie sehe. Aber das darf man jetzt nicht mehr sagen.

2006 hat alles angefangen. „Die Welt zu Gast bei Freunden“, „Sommermärchen“, der Wandel zur Fahne. Ich dachte damals, das sei nur eine Phase, ein kurzer Rückfall ins Kleinkindalter. Schließlich kann man die deutsche Nicht-Identität auch als Errungenschaft begreifen. Ein Land braucht keine nationalen Embleme, keine Vaterlandsliebe, um zu existieren. Die Gesellschaft schien sich einig in ihrem nüchternen Verhältnis zu Deutschland. Die Engländer zum Beispiel, dachte ich immer, haben es nicht besser gelernt. Sie finden es normal, sich eine Fahne ins Gesicht zu malen. Sie sind große Kinder.

Jetzt ist sich niemand mehr einig: Bereits Wochen vor dem ersten Auftritt der Fußball-Nationalmannschaft war die deutsche Flagge in Europa die meistverkaufte. Die Menschen hüllen sich in Schwarz-Rot-Gold, statten ihre Autos damit aus, streifen ihnen gar ein – so nennt man das jetzt – Außenspiegelkondom über. Junge Berliner ziehen in Fahnen gehüllt über die Warschauer Straße, sitzen Fähnlein schwenkend in der Kulturbrauerei, radeln mit schwarz-rot-goldenen Wangen durch die Oranienstraße. EM 2012, Generationen, die gänzlich ohne aufgewachsen sind, tragen Fahne, ziemlich routiniert inzwischen. Ein Land hat es sich antrainiert. Wo haben wir uns das nur abgeschaut? Holland, Frankreich? In Deutschland konnte man auf solche Ideen schließlich nicht kommen in den letzten Jahrzehnten. Mit gutem Grund, hieß es dann immer.

Sehen Sie hier den Jubel nach dem deutschen Sieg über Holland - mit vielen Fahnen:

So viele nehmen an dieser Entwicklung teil, dass andere sich gestört fühlen. Wutentbrannt reißen sie die Fahnen ab und hinterlassen Zettel an den Autoscheiben. Auf den Zetteln steht in Behördentonfall, dass die Fahne Nationalismus produziere. Der ausgrenze, beherrsche, verblende, töte. Das wiederum macht die Fahnenbesitzer wütend. Sie schimpfen über Sachbeschädigung und Bevormundung. So viel Streit um so viele Fahnen.

Vielleicht macht Fahnetragen einfach Spaß. Fühlt sich der glänzende Stoff gut an? Passen die Farben gut zusammen? Gibt eine Fahnenstange Halt? Ist es zur Abwechslung mal ganz angenehm, nicht immer einzigartig sein zu müssen? Einfach mal unterzutauchen, eins zu werden mit den anderen?

Julia Prosinger
Julia Prosinger

© Mike Wolff

Vielleicht ist es auch so wie bei den Kindern, denen das Fernsehen verboten ist. Wenn dann die Eltern das Haus verlassen, glotzen sie auch noch, wenn ihnen eigentlich schon die Augen zufallen, wenn lange schon nichts Spannendes mehr läuft. Wenn es längst keinen Spaß mehr macht. Aber sie halten durch. Weil sie endlich die Chance dazu haben.

Oder geht es um mehr? Haben die Deutschen nie geglaubt, mit ihrem Fahnenverzicht von früher etwas errungen zu haben? Haben sie in Wirklichkeit heimlich die Stunden gezählt, ungeduldig? Dann wären die Fahnen ihre Belohnung für all die Jahre der Entbehrung. Endlich. Die Rückkehr zur Normalität. Vaterlandsliebe wäre dann grundsätzlich wünschenswert. Denn die guten Patrioten, meinen die Fahnenträger nach dieser Logik, werten andere Länder nicht ab, sie legen sich einfach nur für Deutschland ins Zeug. Als könnte man ohne Banner kein guter Bürger sein.

Das würde dann erklären, warum ich nicht mehr sagen darf, dass mir die Bilder von „Sieg“-rufenden Deutschen Bauchschmerzen bereiten, dass ich mich unwohl fühle im Fahnenmeer. Dass es mich gruselt, wenn Deutsche sich am Deutschsein freuen, wenn Deutsche zeigen wollen, dass sie deutsch sind? Dann heißt es: „Ewiggestrige!“ „Alt-68erin!“ „Es ist doch nur Fußball.“ „Nach 70 Jahren kann es doch einfach mal gut sein.“ „Sei doch nicht so verkrampft.“ „Antideutsche“. Ich dachte 2006, dass der Ausrutscher vorbei geht. Jetzt fürchte ich, die Fahnen bleiben. Aber noch kann man es aufhalten. Werdet fahnenflüchtig!

Vielleicht finden viele es angenehm, mal nicht einzigartig sein zu müssen, eins zu werden mit den anderen.

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